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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß
Autoren: Jennifer Dubois
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besteht aus der guten alten Todesfurcht, aus dem tierischen Überlebenswillen, der gegen kalte wissenschaftliche Prognosen aufbegehrt. Aber ein nicht unerheblicher Anteil, fünfzehn Prozent vielleicht, ist das Bedauern, dass ich das Ende verpasse.
    Ich wünschte also, mein Vater, der passionierte Russlandkenner, hätte das alles noch sehen können. In gewisser Weise hat er es sogar. Er war überall dabei. Als 89 die Mauer fiel, lebte er noch zu Hause und verbrachte die meiste Zeit in abgedunkelten Zimmern, wo sich das flackernde Mondlicht des Fernsehers in seinen Augen spiegelte. An Weihnachten wurden Ceauşescu und seine Frau hingerichtet und ihre bleichen Körper triumphierend im rumänischen Staatsfernsehen zur Schau gestellt. Mein Vater saß mit einem Lätzchen davor und scheiterte an dem Versuch, sich Möhrenbrei in den Mund zu schieben. 91 sah man Jelzin auf einen Panzer steigen – da fristete mein Vater seine Tage schon im Pflegeheim, mit offenem Mund, glasigen Augen und flatternden Händen, die ins Leere griffen. Der Kalte Krieg war vorbei, und die selbstzufriedene Erste Welt delektierte sich an seinen letzten visuellen Zuckungen. Auch wenn mein Vater sich zu dem Zeitpunkt herzlich wenig für diese Ereignisse interessierte, wäre es technisch gesehen nicht falsch zu sagen, dass er sie noch miterlebte.Jeder »ist« natürlich sein Gehirn – und nach meinem nüchternen Weltbild sogar ausschließlich. Doch mein Vater war irgendwie besonders ausschließlich sein Gehirn. Seine Selbstwahrnehmung war von brillanten Schlussfolgerungen, einem herausragenden Gedächtnis und einem Sinn für Humor geprägt, der einem den Boden unter den Füßen wegzog, ohne dass man recht begriff, wie einem geschah – bis man sich zum Gehen wenden wollte. Manche Menschen haben einen Wesenskern, der Gehirnschäden widersteht – ihre Heiterkeit, ihre Güte, ihr Glaube –, so dass es eine Weile dauert, bis Chorea Huntington sie vollständig ausgelöscht hat. Bei einigen überlebt die Herzenswärme bis zuletzt und nährt den Glauben, sie seien noch immer irgendwo da drinnen, wenn man so etwas zu glauben geneigt ist. Bei meinem Vater war es anders. Er bestand in allererster Linie aus seinem Geist, und der Geist ist ein ausgeklügeltes System aus Kopplungen und Hebeln und empfindlichen Regelkreisen. Wenn ein Teil fehlt, ist das ganze System beschädigt.
    Es begann damit, dass die kleinen Orientierungsverluste und Ausfälle, die jeder gelegentlich erlebt, ihm ständig passierten. Dann büßte er seinen Sinn für Kausalität ein – Erlebnisse lösten sich von ihren Kontexten und Konsequenzen. Er setzte sich ans Klavier, aber er spielte nicht mehr. Seine Persönlichkeit schnurrte zu einer verzerrten, vereinfachten Version seines früheren Selbst zusammen. Er wurde immer jünger, was seine Interessen und Ängste anging. Dann begann sich sein Gedächtnis von der Gegenwart rückwärts aufzulösen. Ich verschwand daraus. Und irgendwann meine Mutter.
    Ganz zu Beginn seiner Erkrankung, in jenen verwirrenden ersten Monaten, nachdem ich ihn zum ersten Mal schachmatt gesetzt hatte, glaubten die Leute immer, mein Vater sei betrunken. Um neun Uhr morgens, an einem Dienstagabend, im Supermarkt oder der Bibliothek oder, noch schlimmer, bei einer Schultheateraufführung starrten sie ihn an, flüsterten und wechselten unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. Meine Mutter blickte stur geradeaus, um nicht sehen zu müssen, wie peinlich berührt sie waren. Ich rutschte auf meinem Sitz hin und her, verdrehte die Augen unddachte, ich müsste sterben. Meine gesamte Pubertät hindurch war ich überzeugt, dass die Vererbung für mich keine Rolle spielte, weil ich diese Demütigungen ohnehin nicht überleben würde.
    Später wirkte mein Vater wie die Karikatur eines Kranken, und manchmal glaubte wirklich jemand, seine ausladenden Bewegungen, seine rhythmischen Zuckungen und die kleinen korrigierenden Gebärden, mit denen er sie überkompensierte, seien ein geschmackloser Scherz. Sie verstummten indigniert, bis sie sein bleiches, eingefallenes Gesicht und die tief in ihre Höhlen gesunkenen Augen bemerkten. Dann blieben sie stumm.
    Am Ende vollführten seine Arme mit flatternden Fingern wilde rudernde Bewegungen. Meine Mutter fütterte ihn mit unglaublicher Selbstverständlichkeit und Geduld. Sie machte den Mund weit auf, wie man es bei Babys tut, um sie zum Essen zu bewegen. Wenn ich in den Semesterferien zu Hause war, übernahm ich die Aufgabe manchmal und
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