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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß
Autoren: Jennifer Dubois
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fühlte mich unwohl dabei – als könnte er jeden Moment zu sich kommen, mich streng anblicken und mich fragen, was zum Geier ich da tat.
    Man sollte sich nicht einreden, die Psyche würde friedlich ihrem Ende entgegendämmern. Sie windet sich und sucht bis zuletzt verzweifelt nach Bedeutung. Mein Vater gab so viel repetitiven Nonsens von sich wie der endlose Strang immer gleicher Nukleotide in seiner DNA. Am Schluss erstickte er an seiner eigenen Spucke. So sollte man nicht sterben.
    An dem Tag, an dem ich meine Testergebnisse erfuhr, war es windig. Ich ging auf die Straße hinaus, nachdem ich mit der Genetikerin gesprochen hatte – eigentlich hatte ich nicht allein gehen sollen, aber Claire hatte an meinen Blicken abgelesen, dass ich sie mit meinen eigenen, noch funktionstüchtigen Händen erwürgen würde, wenn sie mir folgte. Skelettierte Blätter kratzten an den Außenwänden der Häuser; die U-Bahn hielt am Massachusetts General Hospital, und Heerscharen von Medizinstudenten stiegen aus; der Charles River wirkte matt und schmutzig mit seinen wenigenSegelbooten. Der Himmel sah aus, als sei ihm schlecht. Zwei Dinge gingen mir durch den Kopf – erstens, dass das alles mir schon jetzt weniger bedeutete, und zweitens, wie wenig originell dieser Gedanke war.
    In einem Durchgang übergab ich mich. Passanten erschraken bei dem Anblick – war ich eine Krebspatientin in Chemotherapie? War ich kurz davor, eine ungewollte Schwangerschaft abzubrechen? War ich drogensüchtig? Das waren die ersten von vielen ähnlichen Blicken und Fragen: Wie viel Mitleid verdiente ich genau? Und wie, wenn überhaupt, sollten sie es mir übermitteln?
    Es war zehn Jahre her, dass ich meinen Vater im Schach besiegt hatte. Vererbung über die paternale Linie erhöht die Wahrscheinlichkeit eines frühen Krankheitsbeginns. In der Klinik hatten sie mir erklärt, dass die Anzahl meiner CAG-Tripletts, meiner krankhaft wiederholten chromosomalen Nukleotide, fünfzig betrug, was im Mittel einem Krankheitsbeginn mit zweiunddreißig entspricht. Die Hälfte aller Patienten mit fünfzig CAG-Tripletts entwickelt vor dem zweiunddreißigsten Lebensjahr Symptome und die Hälfte danach. Das nennt man einen Mittelwert.
    Die Ärzte veranschaulichten mir diese Informationen mit Hilfe eines Diagramms, auf dem die Anzahl der Tripletts dem durchschnittlichen Krankheitsbeginn zugeordnet war – wie die Blätter, auf denen man das gesunde Verhältnis von Körpergröße und -gewicht bestimmt oder die Entwicklung eines Kleinkinds mitverfolgt.
    Am Ende des Durchgangs wartete Claire mit meinem Mantel auf mich. An meinen Schuhen klebten Kotzespritzer. Sie legte mir den Mantel um die Schultern und hielt ihn während der U-Bahnfahrt dort fest. Ich zitterte, und die Harvard-Studenten auf dem Heimweg von ihren Praktika, die ihnen weltweite Karriereoptionen eröffnen würden, warfen mir finstere Blicke zu. Wir betrachteten die rauchgrauen Wolken im rosa Abendhimmel über dem Fluss. Wir zählten die Segelboote. Wir fuhren nach Hause und tranken und fluchten drei Tage lang.Damals war ich noch auf dem College. Es hatte Vorbehalte dagegen gegeben, den Gentest so früh vorzunehmen, doch ich hatte alle davon überzeugt, dass es das einzig Richtige sei – damit ich überlegen konnte, ob ich Kinder wollte, und mir die Art kurzfristiger, erreichbarer Ziele stecken konnte, die Todkranke so mochten. Ich hatte innere Reife und aufgeblasenes Geschwätz aufgeboten, wie ich es mir selbst nie zugetraut hätte, hatte existenzialistisch und stoisch argumentiert und mein Gottvertrauen sowie meine positive Einstellung ins Feld geführt (die ich beide nicht besaß). Ich hatte eine Psychologin konsultiert und ihr Sätze aufgetischt wie »Ich lasse mich nicht unterkriegen« und »Es ist alles in Gottes Hand«. Nach den Tests war ich zusammengebrochen, hatte mich zurückgezogen und war in die tiefe Depression versunken, von der ich versprochen hatte, sie nicht zu bekommen.
    Claire und ich lebten in jenem Jahr in einem großen, grauen zweigeschossigen Haus bei Somerville. Ich fürchte, ich machte es ihr nicht leicht. Ich hörte auf, Hausaufgaben zu machen. Claire schleifte mich durch die Tests in formaler Logik. Ich hörte auf, den Campus zu besuchen, und aß nicht mehr. Claire legte mir Bagel vor die Zimmertür. Ich schmollte. Ich verkroch mich. Ich besetzte stundenlang die Dusche, verbrauchte das warme Wasser und leerte das Grapefruitshampoo, weil das Badezimmer der einzige Ort war, wo mich
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