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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß
Autoren: Jennifer Dubois
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blechernen Takte der Nationalhymne herüber. Alexander wollte sich danach umdrehen, doch Iwan packte ihn an der Schulter.
    »Übrigens«, sagte Iwan, »taugst du auch was? Im Schach, meine ich.«
    »Oh. Ja. Vielleicht bald.«
    »Also bist du hergekommen, um das herauszufinden?«, fragte Nikolai.
    »Ja.« Es war peinlich: Dass er den ganzen Kontinent durchquert hatte, nur um seine Spielstärke zu ermitteln, kam Alexander unfassbar kindisch vor. Genauso gut hätte er sagen können, er sei auf der Suche nach etwas, das er im Traum gesehen hatte.
    »Gut«, sagte Nikolai. Sein Gesicht sah im schwindenden Licht aus wie ein Katastrophengebiet. »Das ist gut. Leningrad ist genau der Ort, um herauszufinden, was in einem steckt, nicht? Wie viel man verträgt.«
    Die andern lachten. »Sehr wahr«, sagte Mischa. »Und, was meinst du, Towarischtsch, wie viel verträgst du?«
    Alexander wendete den Zettel in seiner Hand hin und her. »Das weiß ich nicht.« Die Hymne näherte sich ihrem pompösen Ende, und Textfetzen segelten über das scharlachrote Banner und die unsterblichen Ideale über Alexanders Kopf hinweg.
    »Keine Sorge«, sagte Iwan und steckte seinen Stift weg. »Das findest du schon noch raus.«
    Und Alexander fand es wirklich heraus. Es war nicht wenig, was er vertrug, stellte er fest: Das Gemeinschaftsbad, die dünnen Wände, der Mangel an Privatsphäre kümmerten ihn nicht besonders. Er hatte nichts zu verbergen, keine Geliebten, keine Geheimnisse,keine Abweichungen vom politisch Erlaubten. In Ocha hatte er mit seiner Mutter und den kleinen Schwestern gelebt, die ihn nicht weiter beachteten, und hier wünschte er sich manchmal, sein Leben würde um ein dunkles Geheimnis kreisen. Die Kommunalkas waren darauf ausgelegt, Familien zu zerstören, Intimitäten einzuebnen, jeden zum Mitwisser des anderen zu machen, bis jedes Geheimnis verharmloste und verflachte. Auch Alexander wusste bald mehr über seine Mitbewohner, als ihm lieb war – wenn bei einem der Türgriff nach unten zeigte, war dieser Mann ausgegangen, und er war wieder da, wenn seine Hausschuhe fehlten; wenn ein anderer nach längerer Abwesenheit zu seiner Frau zurückkehrte, wurde erwartet, dass die Nachbarn die Kinder zu sich nahmen. Alle liefen spärlich bekleidet herum – die Frauen, deren blasse Beine aus ihren Bademänteln hervorglitten, wie die Männer, die in fleckigen Unterhemden Kartoffeln kochten. Jeder stahl dem anderen Lebensmittel – kalt gewordene Reste auf dem Herd verschwanden schnell und spurlos –, und als einen Monat lang das warme Wasser ausfiel, setzten die Frauen große Töpfe auf und wuschen sich in der Küche, ohne die Tür zu schließen. Alexander hörte noch mehr, als er sah – das Geschrei von Kindern und Betrunkenen und Liebenden und Witwen –, und manchmal spürte er den Drang, selbst Lärm zu machen, damit die anderen einen Moment lang innehielten und darauf horchten, was bei ihm los war. Doch seine Abende vergingen in aller Stille. Er trank Tee, las seine Schachbücher und zerlegte die Zeit in erträgliche Abschnitte, bis er darauf hoffen konnte, einzuschlafen.
    Tagsüber war es nicht viel besser. Er schrieb sich an der Schachakademie ein und begann sein Studium bei Andronow, dem Lehrer, der über seine Kontaktleute im Osten von Alexander erfahren, ihn zu sich bestellt und mit Verbindungen, Bestechungen und verhüllten Drohungen seinen Umzug möglich gemacht hatte. In den Monaten vor der Abreise hatten Alexander und seine Familie begonnen, Andronow als eine Art Engel des Verderbens zu sehen, der Alexander willkürlich auserwählt hatte, eine Ehrfurcht gebietende,erhebende, alles verzehrende Prüfung zu bestehen. Jetzt kam es ihm beinahe ketzerisch vor, zuzugeben, dass Andronow eine Enttäuschung war: Er stellte sich als kleiner Mann mit Stiernacken heraus, der beim Sprechen spuckte. Beim Einschreiben warf er einen raschen Blick auf Alexander, einen etwas längeren auf dessen Papiere und sagte: »Du kannst gehen. Du spielst gegen Nummer elf.« Alexander nahm seine feuchten Dokumente wieder an sich und ging in die Richtung, in die Andronow zeigte. Nummer elf war ein mürrischer, pickliger Junge aus Irkutsk. Angesichts seiner Pickel nahm Alexander an, Nummer elf bräuchte ebenfalls einen Freund, doch da irrte er sich. Seinen Fragen nach dem ersten Spiel begegnete der Junge mit langen, vernichtenden Schweigepausen und einsilbigen Repliken. Ganz so dringend brauchte Alexander vielleicht doch keine Gesellschaft.
    Einige Wochen
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