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Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Titel: Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)
Autoren: Joyce Maynard
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Bislang scheint es, als seien sie alle vom selben Wuchs wie Connie, und wenn sie nacheinander mit ihm in die Kirche marschieren, ist sein Herz von zärtlichem Stolz erfüllt.
    Plötzlich klingelt das Telefon. Erstaunlich bei diesem Sturm. Die Zentrale meldet einen umgestürzten Baum auf der alten Landstraße. Edwin soll mit seinem Pick-up und einer Kettensäge kommen, um die Straße zu räumen – obwohl vermutlich keiner unterwegs sein wird, bis das Unwetter sich gelegt hat. Edwin ist Einsatzleiter der freiwilligen Feuerwehr der Ortschaft; ihn ruft man, wenn solche Dinge erledigt werden müssen.
    Er hat schon seine Stiefel angezogen. Dann schlüpft er in die gelbe Regenjacke und überprüft, ob seine Taschenlampe einwandfrei funktioniert. Noch ein paar Schlucke Kaffee für den Fall, dass der Einsatz länger dauert, als er hofft. Einen Kuss für seine Frau, die ihm wie gewohnt mechanisch die Wange hinhält. Dann zündet sie die Herdflamme an, um die Bohnen für die Kinder aufzuwärmen.
    Der Himmel ist inzwischen pechschwarz, der Sturm tost und heult. Edwin steigt ins Führerhaus seines Wagens und startet den Motor. Trotz der Scheibenwischer kann er diese Strecke nur zurücklegen, weil er sie so gut kennt – er könnte sie mit verbundenen Augen fahren.
    Das Radio läuft, und Edwin findet es eigenartig, dass sie gerade jetzt ein Lied von Peggy Lee spielen, der Frau, an die er vor knapp einer Stunde gedacht hat, als er das Vieh in den Stall trieb. Das wäre die rechte Frau für ihn. Wie es wohl sein muss, mit so einer was zu haben.
    Die Sendung wird unterbrochen, es wird nun sogar der Notstand ausgerufen. Im ganzen County ist der Strom ausgefallen. Niemand darf auf der Straße sein außer den Rettungskräften – zu denen auch Edwin gehört.
    Er weiß, dass er einen langen Abend vor sich hat. Bald wird er durchnässt sein bis auf die lange Unterhose. Außerdem ist es gefährlich, in so einem Unwetter draußen zu sein. Umstürzende Bäume, abgerissene Stromkabel, Überschwemmungen.
    Er denkt an einen Film, den er einmal gesehen hat, bei einem seiner wenigen Besuche in einem Kino: Der Zauberer von Oz . Als da der Sturm losbrach (ein Twister, wenn er sich recht entsinnt), riss er das Farmhaus in die Lüfte, und es landete an diesem vollkommen fremden Ort, von dem kein Mensch je gehört hatte. Das war zwar eine erfundene Geschichte, aber auch in New Hampshire bekam man es mit wilden Unwettern zu tun. Etwa zu der Zeit nämlich, als Edwin diesen Kinofilm mit Judy Garland sah, gab es das schlimmste Unwetter seit hundert Jahren, den Hurrikan von 1938. Er entwurzelte die Eiche vor dem Farmhaus, an der damals Edwins Reifenschaukel hing. Und noch ein paar Hundert Bäume dazu. Oder wohl eher ein paar Tausend. Nach so vielen Jahren reden die Leute in der Gegend nach wie vor von diesem Sturm und teilen sogar die Zeit in vor ’38 und danach ein.
    Und dieser Hurrikan hier scheint es auch in sich zu haben. Edwin geht im Geiste die Stellen auf der Farm durch, an denen Schaden drohen könnte. Die Ernte ist dieses Jahr nicht gefährdet (auf den Feldern liegen nur noch ein paar Kürbisse), doch das Scheunendach, der Schuppen und der Hickoryhain an den Erdbeerfeldern, den er so liebt, könnten bedroht sein. Um die Hickorybäume würde es Edwin leidtun, aber die erwischte es bei Unwettern immer zuerst.
    Und dann das Farmhaus, das vom Urgroßvater erbaut wurde und dem Zahn der Zeit getrotzt hat, mit Edwins vier kleinen Mädchen und seiner guten Frau darin. Er lässt sie ungern alleine in solch einem Unwetter.
    Dennoch hat Edwin Plank eine seltsam freudige Vorahnung, als er mit seinem alten Dodge durch Sturmböen und Sturzfluten die nachtschwarze Straße entlangtuckert. Ein Hurrikan kehrt nämlich alles von oben nach unten. Man weiß nie, was man vorfindet, wenn der Sturm sich erst gelegt hat. Aber so viel steht fest: Morgen wird die Welt eine andere sein. Vielleicht lässt es auf eine gewisse Unrast in Edwin Planks Wesen schließen oder gar einem Begehren nach etwas, das ihm bislang fehlt – jedenfalls schlägt sein Herz schneller, während er durch diese wilde Dunkelheit fährt. Am nächsten Morgen schon könnte das Leben auf diesem Flecken Erde vollkommen anders sein.

TEIL 1

Ruth
    Bohnenstange
    M ein Vater sagte stets, ich sei ein Hurrikankind, obwohl ich nicht während eines Hurrikans geboren wurde. Der 4. Juli 1950, der Tag meiner Geburt, lag weit vor der Zeit, in der alljährlich die Stürme tobten.
    Er meinte damit, dass ich
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