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Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Titel: Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)
Autoren: Joyce Maynard
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merklich anders als meine Schwestern, aber irgendwie spürte ich in meinem Herzen, dass sie für mich nicht dasselbe empfand. Am meisten fiel es mir auf, wenn ich sie im Umgang mit meinen Schwestern erlebte – mit Naomi, deren Haare sie gerne flocht, oder mit Esther, die sie »meine Süße« nannte, oder mit Sarah, deren Kosename »Schneckchen« lautete.
    »Hab ich auch so einen Namen?«, fragte ich meine Mutter einmal. Sie sah mich mit leerem Blick an, als ginge es über ihre Kraft, sich noch ein weiteres Kosewort auszudenken.
    »Ruth«, antwortete sie. »Das ist doch ein schöner Name.«
    Da schaltete sich mein Vater ein: »Ich glaub, ich werd dich ›Bohnenstange‹ nennen«, sagte er.
    Ich war anders als meine Schwestern. Und vor allem ganz anders als meine Mutter. Niemand wusste das, aber ich dachte mir seltsame Geschichten aus, und ab und an zeichnete ich sie auch. Diese Bilder waren manchmal so sonderbar und sogar schockierend, dass ich sie in meiner Strumpfschublade versteckte. Aber es gab einen Menschen, dem ich sie zeigte, wenn ich Gelegenheit dazu hatte: Ray Dickerson.
    Bei unserem zweiten Besuch in Vermont brachte ich Ray ein Bild von uns beiden in einem Raumschiff mit. Wir trugen Raumanzüge, waren aber zu erkennen, und vor dem Fenster sah man den Saturn. In der Schule hatten wir gerade über Astronauten gesprochen, und man hatte uns von Ham erzählt, dem Schimpansen, der ins All geschossen wurde. Diese Vorstellung verstörte mich, weil meine Lehrerin nichts davon gesagt hatte, dass man den Affen wieder zurückholen wollte. Was ja bedeutete, dass er wohl dazu verurteilt war, um die Erde zu kreisen, bis ihm das Futter ausgehen und nichts außer einem Schimpansenskelett von ihm übrig bleiben würde. Auf meinem Bild war ich halb Mädchen, halb Schimpanse, und auch Ray sah wie ein Schimpanse aus.
    »Manchmal fühle ich mich wirklich wie dieser Affe, den sie ins All geschossen haben«, sagte er, als ich ihm das Bild zeigte.
    »Aber du wärst nicht so einsam, wenn noch jemand dabei wäre«, erwiderte ich; auf dem Bild waren wir ja auch zu zweit.
    Ray schaute mich an. Vielleicht dachte er: Wieso rede ich mit einem kleinen Kind ? Er sah aus, als wolle er etwas sagen – diesen Gesichtsausdruck hatte er oft –, blieb aber stumm. Er stieg nur auf sein Einrad und radelte davon. Aber vorher steckte er das Bild in seine Hosentasche. Das war auch typisch für Ray: Er konnte ganz plötzlich verschwinden. Im einen Moment unterhielt man sich prächtig, und im nächsten war er spurlos verschwunden.
    Als wir an diesem Nachmittag nach Hause fuhren, sahen wir ihn auf seinem Einrad am Straßenrand. Er bemerkte uns nicht, aber ich erhaschte einen kurzen Blick auf sein Gesicht. Und mir wurde klar, dass ich diesen Jungen liebte.

Dana
    Wo Probleme drohten
    M ein Bruder und ich sprachen unsere Eltern mit ihren Vornamen an, Valerie und George. In all den Jahren mit ihnen haben wir sie, soweit ich mich erinnern kann, nicht einmal Mom oder Dad genannt. Das sagt eine ganze Menge aus. Ich weiß nicht, ob ich jemals überhaupt das Gefühl hatte, Eltern zu haben. Jedenfalls waren meine nicht so, wie man sich Eltern normalerweise vorstellt.
    Es fühlt sich ziemlich seltsam an, in einer Familie aufzuwachsen, in der die Erwachsenen diejenigen sind, die eigentlich erwachsen werden müssten. Das empfand ich schon als Kind so. Die beiden kamen mir so unzuverlässig vor. Sie waren derartig mit sich selbst beschäftigt, dass sie ihre Kinder manchmal zu vergessen schienen.
    Ich war fünf oder sechs, als George seinen Job als Anzeigenvermittler bei der Zeitung in Concord aufgab, um einen Roman über eine andere Galaxie zu schreiben, in der die Leute keine Kleider trugen. Das war das Einzige aus dem Buch, woran ich mich noch erinnern kann, und es schockierte mich schon als kleines Kind. George hatte die Absicht, ein weltberühmter Autor zu werden, weshalb wir aus New Hampshire – wo er geboren war – wegzogen.
    Valeries Vater war gerade gestorben. Ihre Mutter lebte auch nicht mehr, und da Val keine Geschwister hatte, erbte sie das Geld ihres Vaters. Ihr Vater war sein Leben lang Hüttenarbeiter gewesen, und es gab nicht viel zu erben, aber immerhin so viel, dass George beschloss, seinen Job an den Nagel zu hängen, das Haus zu verkaufen und von dem Geld zu leben, bis sich für ihn als Autor der Erfolg einstellen würde. Er hatte die Absicht, nicht nur Schriftsteller, sondern Autor zu werden, wobei ich diesen Unterschied nie verstanden
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