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Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Titel: Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)
Autoren: Joyce Maynard
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unlängst wieder angefangen, Mundharmonika zu spielen.
    Ruth und er fanden nun endlich Gelegenheit, über all das zu sprechen, was sich vor so vielen Jahren ereignet hatte. Ray hatte den Feuerwehrmann, der ihn und seine Mutter im Hurrikan gerettet hatte, nie vergessen. Doch erst viele Jahre später hatte Connie ihm auf Quadra Island jenen Teil der Geschichte offenbart, der Ray das Herz brach. Er war immer schon psychisch instabil und besonders empfindsam gewesen. Vermutlich hatte ihn der Verlust von Ruth, die sein Fundament in der Realität gewesen war, in einen Abgrund gestoßen.
    Wenn ich Ray besuchen komme, höre ich manchmal von der Hintertür eine alte Melodie – dann sitzt er da auf der Schwelle, auch bei Wind und Wetter, und spielt Mundharmonika. Häufig auch Shenandoah .
    Ruth malt und gibt Kurse als Kunsttherapeutin, und manchmal kommen ihre Kinder und Enkel zu Besuch, die auch in der Erdbeer- und Kürbissaison, wenn viel zu tun ist, am Verkaufsstand einspringen. Ruth betreibt ihn wie immer. Es gibt inzwischen einen sympathischen Mann an ihrer Seite, aber mit ihm zusammenleben muss sie nicht unbedingt, hat sie mir gesagt.
    Unser Vater ist nach wie vor im Birch Glen Home, wo wir ihn – zusammen oder einzeln – mehrmals die Woche besuchen. Manchmal nehmen wir ihn auch am Wochenende mit auf die Farm und gehen ein paar Schritte mit ihm über die Felder. Im Sommer kochen wir uns ein Bäckerdutzend Maiskolben in einem großen Topf und rollen sie vor dem Essen in Butter hin und her. Ruth hat mir erzählt, dass bei Planks der Mais immer so gegessen wurde, und ich habe diese Tradition übernommen.
    An einem Abend, als der Silver-Queen-Mais gerade geerntet wurde und unser Vater zu Besuch bei uns war, geschah etwas Außergewöhnliches.
    Er saß an seinem angestammten Platz am Kopf des Tisches, vor sich den dampfenden Maiskolben, und starrte auf den Teller. Dann schüttelte er den Kopf, und ich sah, dass ihm Tränen in den Augen standen.
    »Alles ist gut, Dad«, sagte Ruth.
    »Du bist ein guter Vater gewesen«, sagte ich. »Du warst der Einzige, der uns beide so gesehen hat, wie wir waren. Nicht wie wir in den Augen anderer sein sollten.«
    »Töchter«, sagte er. »Was kann ein Mann sich mehr wünschen als gute Töchter?« Dann griff er nach seinem Maiskolben.
    Nachdem wir ihn später ins Heim zurückgebracht hatten, saßen Ruth und ich auf der Veranda und schauten über die Felder. Wir sprachen beide nicht, und es war auch nicht nötig. In solchen Momenten kann ich spüren, dass ich eine Familie habe – auch wenn es nicht die Familie ist, der ich einst angehörte oder die ich mir gewünscht hätte. Ich liebe dieses Land und die Menschen, mit denen ich es teile – obwohl ich grundsätzlich Pflanzen, Ziegen, Hunde und Hühner der Gesellschaft von Menschen vorziehe.
    Die Clarice-Erdbeere ist übrigens eine der beliebtesten Arten von Ernies Samenvertrieb geworden, ein Dauerbrenner. Vor einiger Zeit wurde ich von einer Doktorandin von der Universität interviewt, an der Clarice gelehrt hatte. Die Doktorarbeit dieser jungen Frau trug den Titel »Effektive Nutzung von Tochterpflanzen bei der Züchtung hochwertiger Erdbeerhybriden«.
    Die junge Botanikerin gestand mir, dass sie hoffe, mit diesem Forschungsprojekt einen Lehrauftrag an der Uni zu ergattern. Ich hätte an dieser Stelle einiges über interne Unipolitik und unsachliche Bewertungskriterien sagen können, die ihre Zukunft negativ beeinflussen könnten. Doch ich hoffe, dass die Zeiten besser geworden sind und sich auch in diesem Bereich einiges geändert hat.
    Ich erzählte der jungen Frau, dass ich – wie mein Vater – die Erforschung der Pflanzenvermehrung immer schon faszinierend fand. Die natürliche Auslese –, so brutal sie auch sein mag –, schafft ein perfektes Gleichgewicht in der Natur, erklärte ich ihr. Nur die Stärksten überleben. Manch wunderbares Lebewesen auf Erden – ich denke dabei an meinen Bruder und an Clarice – kann nicht bestehen, aus Gründen, auf die es keinerlei Einfluss hat. Andere dagegen – darunter ich und die Frau, die ich nun meine Schwester nenne und die mir lieb und teuer ist – überleben auch unter widrigsten Bedingungen. Vielleicht sind sie aus härterem Stoff beschaffen. Möglicherweise haben sie aber auch einfach nur mehr Glück.

Danksagung
    D er größte Teil dieses Buches entstand in einem Blockhaus auf dem Gelände einer Ranch in Wyoming – mit Unterstützung der Ucross Foundation, der ich zu großem Dank
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