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Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Titel: Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)
Autoren: Joyce Maynard
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ziemlich vieles gleichgültig zu sein; ich hatte den Eindruck, dass ihre Kunst ihr wichtiger war als ihre Kinder. Meine Mutter hatte alles im Blick, was meine Schwestern und ich taten, wohingegen Val Dickerson für Stunden in ihrem sogenannten Atelier verschwand, ihre Kinder vor einer riesigen Schüssel trockener Cheerios sitzen ließ und bestenfalls noch Anweisungen wie »spielt was« oder »vielleicht findet ihr ein Eichhörnchen, dem ihr was beibringen könnt« von sich gab. Und merkwürdigerweise gelang ihnen das manchmal auch. Wenn Ray mit Tieren sprach, schienen sie ihm zuzuhören.
    Im Sommer hatte mein Vater so viel zu tun, dass er sich nie frei nehmen konnte, aber meine Mutter bestand darauf, dass wir jedes Jahr in den Frühjahrsferien eine Reise machten. In dieser Zeit fielen auf der Farm nur Arbeiten an, die mein Vater – wenn auch widerstrebend – seinem Gehilfen überlassen konnte, einem drahtigen Burschen namens Victor Patucci, der etwa mit vierzehn bei uns aufgetaucht war, weil er Arbeit suchte. Victor war nicht gerade der typische Farmer: Er rauchte, benutzte so viel Pomade, dass sich das Licht in seinen Haaren spiegelte, hatte eine Schwäche für Autorennen, stellte sein Transistorradio auf volle Lautstärke, sobald ein Song von Elvis Presley lief, und schien niemals zur Schule zu gehen. Sein Vater arbeitete in der Schuhfabrik, und mein Vater fand kein gutes Wort für den Mann – was ungewöhnlich war, da er so gut wie nie schlecht über andere Menschen sprach.
    »Der Junge braucht ein bisschen Unterstützung«, meinte mein Vater, als er Victor einstellte. Und obwohl meine Mutter ursprünglich gegen die zusätzliche Ausgabe von dreißig Dollar pro Woche gewettert hatte, war sie dennoch dankbar für Victors Anwesenheit, denn ohne ihn wäre die alljährliche Reise nicht möglich gewesen.
    Im März brachen wir also jedes Jahr zu Dickersons auf. Meine Mutter packte eine Kühltasche mit Sandwiches, Gläsern mit Erdnussbutter und Lebensmitteln wie Konservenfleisch ein, die nicht schlecht wurden. Meine Schwestern und ich quetschten uns, mit Malbüchern und Rätselheften ausgestattet, auf den Rücksitz unseres alten Ford Kombi mit den Holzimitattüren und vertrieben uns während der Fahrt die Zeit, indem wir »Ich sehe was, was du nicht siehst« spielten oder nach Autonummern von fremden Bundesstaaten Ausschau hielten. Ab und an besichtigten wir Schlachtfelder oder Museen, aber unser eigentliches Reiseziel war immer das verlotterte Haus oder der Wohnwagen (einmal auch eine ausgebaute Nissenhütte), in dem die Dickersons in diesem Jahr gerade wohnten.
    Anlass dieser alljährlichen Reise war für meine Mutter meine Verbindung mit Dana Dickerson. Doch ich freute mich nur auf Danas Bruder Ray.
    Ich erkannte, dass Ray ein hübscher Junge war, und dieses Wissen machte mich schüchtern, obwohl ich mich zugleich zu ihm hingezogen fühlte. Und sonderbarerweise schien er mich interessanter zu finden als meine Schwestern, obwohl ich vier Jahre jünger war als er. Bei einem unserer Besuche entdeckte er ein Bild, das ich während der Fahrt gemalt hatte – ein Kamel, das ich von einer leeren Zigarettenpackung abgezeichnet hatte. Auf meiner Zeichnung saß auf dem ersten Höcker ein Mann, gekleidet wie Lawrence von Arabien, und auf dem zweiten eine gefesselte junge Frau.
    »Toll, das Bild«, sagte Ray. »Ich geb dir ein Bonbon dafür.«
    Ich hätte ihm das Bild auch umsonst gegeben, brachte aber keinen Ton hervor.
    Nach diesem Erlebnis hatte ich immer jede Menge Zeichnungen dabei, wenn wir zu Dickersons fuhren – Bilder, die Jungen gefallen mochten: Astronauten, Cowboys und ein Porträt vom Red-Sox-Lieblingsspieler meines Vaters, Ted Williams.
    »Nur noch ein paar Stunden, Mädels«, sagte meine Mutter immer, wenn wir uns über die lange Fahrt beklagten. Doch der unangenehmste Teil der Reise war eigentlich die Ankunft, wenn wir von Mrs Dickerson mit erstaunter und irritierter Miene (das bemerkte ich schon als Kind) empfangen wurden und Limonade, aber nie etwas zu essen bekamen.
    In dem ersten Jahr, nachdem Dickersons weggezogen waren, besuchten wir sie in Pennsylvania und besichtigten auf dem Weg die Freiheitsglocke. Später machten wir die Reisen – nach Vermont, Connecticut und wieder nach Vermont – nur, um Dickersons zu besuchen, aber meine Mutter erzählte Val immer, wir seien auf der Durchreise. (Wohin denn?) Unser Besuch dauerte meist etwa eine Stunde, nie länger als zwei.
    Dana und ich konnten nichts
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