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Das Leben des Jean Paul Friedrich Richter: Eine Biographie (German Edition)

Das Leben des Jean Paul Friedrich Richter: Eine Biographie (German Edition)

Titel: Das Leben des Jean Paul Friedrich Richter: Eine Biographie (German Edition)
Autoren: Günter de Bruyn
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darunter auch die »Bayreuther Zeitung«, deren Vierteljahresbände sich der Vater von der Gutsherrschaft lieh. Aus dieser Lektüre zog Jean Paul die Erkenntnis, dass sich Wahrheiten nicht aus der täglichen, sondern nur aus der bandweisen Zeitungslektüre herauslesen lassen, weil erst ein Band von ihr »Blätter genug zum Widerruf ihrer anderen Blätter gewinnt«.
    Unter den wenigen Büchern, die ihm in der »geistigen Sahara-Wüste« des Dorfes zu »frischen grünen Quellenplätzchen« wurden, fand er den damals bereits 120 Jahre alten »Orbis pictus« des Tschechen Amos Comenius, der eigentlich Komensky hieß, besonders erwähnenswert. Dieses klassische, den heutigen Bilderlexika ähnliche Latein-Lehrbuch, mit dem auch Goethe gelernt hatte, führte in der deutschen Version den umständlichen Titel »Orbis sensualium pictus. Die sichtbare Welt, das ist: aller vornehmsten Weltdinge und Lebensverrichtungen Vorbildung und Benamung« und wurde in zeitgemäßen Erneuerungen und Übersetzungen in vielen Ländern Europas noch bis ins 20. Jahrhundert hinein benutzt. In ihm hatte Comenius nach seinem Grundsatz, dass nichts im Verstande sei, das nicht vorher im Sinne gewesen, zum ersten Mal konsequent die Anschauung zur Grundlage des Unterrichts gemacht. Hier konnte der mit unverstandenen lateinischen Vokabeln und Regeln traktierte Junge im Holzschnitt die Bedeutung des Gepaukten anschauen und gleichzeitig auch erfahren, wie man es im Deutschen benennt. Hier lernte er nicht nur den Satz: Infans ejulat – Das Kind wimmert, sondern sah auch das Bild mit dem Wickelkind in der Wiege, und wenn es hieß: Ventus fiat – Der Wind wehet, so konnte er aus Wolken ein dickbackiges Gesicht blasen sehen. Hier lernte er die Gestalten des Mondes – Phases lunae – kennen, lernte das Hausgeflügel Aves domestica nennen, konnte in Latein die Arbeit des Müllers und des Bergmanns verfolgen und wurde auch darüber belehrt, dass Gottes Auge über allen Dingen und Geschehnissen wacht.
    Weniger als der »Orbis pictus« waren für den lernbegierigen und lesehungrigen Knaben die »Gespräche im Reiche der Toten« von David Faßmann geeignet, von denen der Vater einige Bände besaß. Fritz las sie durch, verstand davon wenig, konnte abends aber doch der ganzen Familie die Liebesgeschichte des türkischen Kaisers mit Roxelane erzählen, und der Vater, der sehr wohl wusste, das sein häuslicher Unterricht dem lerneifrigen Sohn nicht genügte, missbilligte diese Lektüre nicht. Sein Vorsatz, Fritz auf eine bessere Schule zu schicken, war mit seinen geringen Einkünften nicht zu verwirklichen, da die Zahl seiner Söhne inzwischen auf vier angewachsen war. Besserung der familiären Misere konnte nur eine besser bezahlte Pfarrstelle bringen, auf die man dann wirklich hoffen konnte, als der Amtsbruder im benachbarten Schwarzenbach an der Saale starb. Fritz war im 13. Lebensjahr, als die Freifrau von Plotho, die sich das dortige Kirchenpatronat mit dem Fürsten von Schönburg-Waldenburg teilte, sich erneut als Gönnerin des Vaters zeigte, so dass die Familie im Januar 1776 das Dörfchen, in dem Fritz seine Kindheit verlebt hatte, verließ.
    Es war das erste Mal, dass der Junge von einem Ort, den er lieb gewonnen hatte, Abschied nehmen musste. Aber für Kinder, so sagte er später, »gibt es kaum Abschiede, denn sie kennen keine Vergangenheit, sondern nur eine Gegenwart« , die voll Zukunft ist.

Das gelehrte Kind
    Der damalige Marktflecken Schwarzenbach an der Saale, der erst 1844 die Stadtrechte erwerben konnte, hatte etwa anderthalb Tausend Einwohner, darunter auch solche, von denen Fritz Richter sich Bücher ausleihen konnte, die er dann manchmal auch auf der Kirchenempore während der Predigt des Vaters las. Damals fiel ihm auch Defoes spannende Geschichte des »Robinson Crusoe« in die Hände, in der er miterlebte, wie sich fern der europäischen Ständegesellschaft ein Bürgerlicher durch Selbsthilfe und Gottvertrauen eine eigne Welt des Besitzes schafft. Seine Leselust, die ihn nie loslassen sollte, galt neben der Dichtung aber auch der Theologie, der Philosophie und manch anderem Wissensgebiet. Die Weltschau, die ihm der »Orbis pictus« in Holzschnitten geboten hatte, wurde durch die Lektüre bedeutend erweitert, und viele der damals geernteten Lesefrüchte wurden später in seinen Werken zu teils witzigen und erhellenden, teils aber auch lästigen Abschweifungen und Metaphern verwendet, prägten also seine unnachahmliche Art des
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