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Das Land des letzten Orakels

Titel: Das Land des letzten Orakels
Autoren: David Whitley
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Snutworths Gattin gewesen. Sie hatte über ein Jahr mit ihm gelebt, halb Gefangene, halb Beute. Mark vermochte sich nicht vorzustellen, wie es gewesen sein musste. Fest stand, dass sie kein Bedürfnis hatte, darüber zu sprechen. Mark hatte sie im Turm des Sterndeuters, Snutworths damaligem Zuhause, eingesperrt vorgefunden. Sie hatte darauf gebrannt, sich ihm bei seiner Flucht anzuschließen. Aus Sicht des neuen Direktors war sie überhaupt nicht weggelaufen – Mark hatte sein Eigentum gestohlen. So dachte er, und er hatte das Gesetz von Agora auf seiner Seite.
    »Sind Sie sicher, dass die anderen Schuldner nichts verraten werden?«, murmelte Cherubina, sichtbar mitgenommen. »Viele von ihnen haben gesehen, wie wir hier angekommen sind.«
    Theo hob müde den Kopf. »Wer in unserem Almosenhaus Zuflucht nehmen muss, ist mit Sicherheit den Eintreibern nicht in Liebe verbunden«, erklärte er, nachdem er kurz nachgedacht hatte. »Dennoch würde ich mich nicht auf ihr Schweigen verlassen, falls die Eintreiber rüdere Verhörmethoden anwenden. Lange werdet ihr hier nicht bleiben können. Vielleicht finden wir eine Möglichkeit, euch irgendwie herauszuschmuggeln.« Theo rieb sich die Schläfen. Er wirkte erschöpft. Nach Marks Einschätzung konnte der Doktor nicht älter als dreißig sein, doch seit er ihn das letzte Mal gesehen hatte, war er äußerlich stark gealtert. Seine Geheimratsecken breiteten sich immer mehr aus, und die Last der Sorgen schien seinen großen, schlanken Körper niederzudrücken. Mark stellte sich vor, dass sein plötzliches Erscheinen vor wenigen Stunden es auch nicht gerade besser gemacht hatte.
    »Aber … Mark hat gesagt, Sie können uns aufnehmen!«, rief Cherubina. »Sie sind die Einzigen in Agora, an die wir uns wenden können! Ich kenne niemanden hier in der Stadt, abgesehen von Mami, und die würde mich nicht verstecken. Nicht, wenn dadurch ihre Geschäfte in Gefahr gerieten …« Traurig verstummte Cherubina.
    »Schon gut, Cherubina«, beruhigte Mark sie. »Bestimmt findet Theo irgendwo für uns eine …«
    »Wartet mal einen Moment!«, unterbrach ihn Theo mit fester Stimme. »Vor allem anderen müsst ihr mir erst einmal erzählen, was hier vor sich geht.« Der Doktor begegnete Marks Blick. Er schaute ihn dabei nicht unfreundlich an. Um sich bei Theo unbeliebt zu machen, bedurfte es einer Menge, vermutete Mark, doch dies nun war ein Blick, der Antworten einforderte. »Tut mir leid, Mark. Ich bin froh zu sehen, dass du in Sicherheit bist, wirklich. Aber du kannst dich uns nicht … so ausliefern und dann von uns erwarten, dass wir alles für dich riskieren, ohne dass du dich ein wenig erklärst.«
    In der Ecke, hinter den Betten der schwer am Fieber Erkrankten, erblickte Mark die zerbrochenen Reste der Packkisten, die sie für ihre Flucht aus Snutworths Turm benutzt hatten. Sie hatten sie in Stücke gehackt und in den Keller verfrachtet, bevor die Eintreiber sie entdecken konnten. Das war erst eine Stunde her, doch es kam ihm länger vor. Er erinnerte sich daran, wie Theo nervös auf und ab gelaufen war, und Laudate, Theos Freund und Marks ehemaliger Angestellter, die körperlich gesunden Schuldner hinausgetrieben hatte, nicht ohne ihnen zuvor eindringlich einzuschärfen, das Gesehene für sich zu behalten. Er erinnerte sich, wie Benedicta, Laudates Schwester, Cherubina aus ihrer Kiste geholfen und aus den Locken der jungen Frau Stroh und Sägespäne herausgepickt hatte. Er wünschte, Benedicta wäre jetzt noch hier und würde sie beide nach wie vor unheimlich aufgeregt und grinsend willkommen heißen. Mark war Ben zuvor erst ein einziges Mal begegnet, doch dieses Lächeln war ihm in Erinnerung geblieben – ein Lächeln, das er so wenig verdient und das sie ihm so großzügig geschenkt hatte. Trotz Bens sprudelnder Energie verbreitete ihr Lächeln eine Gelassenheit, die ungemein beruhigend wirkte. Doch sie war mit den Worten, sie müsse jemanden suchen, wenige Minuten nach seiner Ankunft davongehastet, und danach waren sie alle zu beschäftigt gewesen, weil sie sich auf die Eintreiber vorbereiten mussten, als dass sie sich die Zeit genommen hätten, miteinander zu reden.
    »Das ist ziemlich schwer zu erklären«, räumte Mark ein. »Aber ich werde es versuchen.«
    »Ja, Mr Mark, das würden wir hier alle begrüßen.«
    Die Stimme erscholl vom oberen Treppenabsatz. Mark blickte hinauf.
    Erneut staunte Mark, wie sehr sich jemand im Verlauf eines Jahres verändern konnte. Laudate, den seine
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