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Das Land des letzten Orakels

Titel: Das Land des letzten Orakels
Autoren: David Whitley
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Freunde als Laud kannten, war nie ein besonders fröhlicher junger Mann gewesen. Doch der Druck, den Tempel in Betrieb zu halten, hatte bei ihm wirklich seinen Tribut gefordert. Sein langes rotes Haar war ungekämmt, und über einem Auge war eine Narbe von einer alten Verletzung zu sehen. Nun, da Mark ihn eingehend betrachten konnte, erkannte er einen Argwohn in seinem Blick, der über seinen üblichen Zynismus hinausging. Dies war ein junger Mann, der es gewohnt war, dass die Welt harte Schläge austeilte, und seine Einstellung zu ihm war in diesem Moment eindeutig feindselig.
    »Ich denke, das sind Sie uns schuldig, nicht wahr?«, forderte Laud bitter. »Nennen Sie es Bezahlung dafür, dass wir Sie vor jedem einzelnen Eintreiber in der Stadt verstecken. Oder haben Sie nicht gewusst, dass sie jede noch so kleine Gasse von hier bis zu den Werften des Wassermann-Bezirks nach Ihnen absuchen?« Während er die Stufen herabschritt, warf er Cherubina einen flüchtigen Blick zu. »Sie nennen euch natürlich nicht beim Namen, aber aus den Beschreibungen geht eindeutig hervor, dass Sie und Mrs Snutworth die Flüchtigen sind.«
    Cherubina fuhr hoch, doch Mark legte ihr beruhigend eine Hand auf den Arm. Laud war nicht gerade der taktvollste Gastgeber.
    »Wie ich schon sagte«, wiederholte Mark, »wurde ich von Snutworth als Gefangener im alten Turm des Sterndeuters festgehalten. Und nun höre ich, dass ich ihn den Direktor nennen muss …«
    »Das fällt mir immer noch schwer zu glauben«, murmelte Laud. »Wenn der alte Direktor ersetzt worden wäre, hätte das doch wohl jeder mitbekommen müssen, oder nicht?«
    »Wirklich, Laud?«, fragte Theo. »Letzteren haben wir nie in der Öffentlichkeit gesehen. Ich denke nicht, dass es allzu überraschend wäre.« Er runzelte die Stirn und zog einen Stuhl für Laud heran. »Sie haben doch für Mr Snutworth gearbeitet. Hätten Sie ihm so etwas nicht zugetraut?«
    Laud räumte dies mit einem Kopfnicken ein. »Mag sein, aber ich sehe nicht, warum er Mark in seinem eigenen Zuhause gefangen halten sollte.« Er wandte sich wieder Mark zu und wirkte nun etwas mehr bereit, diesem zuzuhören. »Sie sollten doch im Gefängnis sein. Als Sie letztes Jahr verschwunden sind, wussten wir nicht, was wir davon halten sollten. Erzählen Sie uns, was passiert ist. Von Anfang an.«
    Mark stand auf, bemüht, seine Gedanken zu sammeln. »Ich war außerhalb der Stadt«, erklärte er.
    Das verblüffte Schweigen sprach Bände. Selbst Laud vermochte seine Überraschung nicht zu verbergen.
    »Das ist unmöglich«, erwiderte Theo matt. »Außerhalb der Stadt gibt es nichts. Das weiß jeder.«
    Mark seufzte. »Das hatte ich auch geglaubt …«
    Danach sprudelte es nur so aus ihm heraus. Dass er und Lily, seine älteste Freundin, gezwungen wurden, Agora zu verlassen. Die seltsame Frau, die ihn aus seiner Gefängniszelle und der Obhut seines längst verloren geglaubten Vaters geholt und ihn in eine merkwürdige neue Welt hinausgeschickt hatte. Das Land draußen – Giseth –, eine Landschaft mit dichten Wäldern und großen Bauernhöfen, wo alle Menschen in Eintracht lebten, alles miteinander teilten und sich niemand über den anderen stellte. Er berichtete, wie sie beide in dem idyllischen Dorf Aecer Zuflucht genommen, dann jedoch festgestellt hatten, dass dieses vermeintliche Paradies von den tyrannischen Ritualen des Ordens der Verlorenen beherrscht wurde, von rot gekleideten Mönchen, sowie der totalen Macht des jeweiligen Dorfoberhaupts – der Sprecherin. Mark erzählte ihnen, wie er mit angesehen hatte, wie ihre Freunde terrorisiert und angegriffen wurden, weil sie gegen den Willen der Sprecherin gehandelt hatten. Und er berichtete von dem geheimnisvollen Zirkel der Schatten, der sich den Mönchen widersetzte und Lily und ihm Zuflucht im Wald gewährt hatte, als sich die Bewohner von Aecer gegen sie gewandt hatten. Vor allem jedoch erzählte er ihnen von dem Alptraum – jenem lebenden Traum, der die Ländereien heimsuchte. Und davon, wie dieser in das Bewusstsein der Menschen eindrang, während sie schliefen, und sich von jedem unterdrückten Gedanken und jeder unterdrückten Tat nährte, so lange, bis er sie in den Wahnsinn getrieben hatte.
    Während er ihnen alles erzählte, beobachtete er die Gesichter seiner Zuhörer. Die Patienten hier unten waren zu krank, als dass sie mitgehört hätten. Zumindest reagierten sie nicht, falls sie etwas verstanden. Cherubina wirkte lediglich verwirrt; er vermutete,
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