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Das Land des letzten Orakels

Titel: Das Land des letzten Orakels
Autoren: David Whitley
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Verlegenheit gekommen zu sagen, wer männlich und wer weiblich war.
    »Bist du allein?«
    »Wer bist du? Wer bist du wirklich?«
    »Wie bist du nach hier unten gekommen?«
    Lily versuchte erneut zu reden, doch die Fragen prasselten dicht und schnell auf sie ein, und sie konnte sich nicht lange genug konzentrieren, um eine einzelne von ihnen zu beantworten. Eigentlich wollte sie sich bei ihnen dafür bedanken, dass sie sie gefunden hatten. Andererseits schien überhaupt nicht klar, ob sie sie in irgendeiner Form unterstützen würden. Jedenfalls hatte bisher keiner der beiden angeboten, ihr aufzuhelfen. Tatsächlich stellte sie fest, dass sie beide zurückwichen, als sie sich aufrappelte, so als hielten sie sie für gefährlich.
    »Ihr braucht nicht … ich meine … ich tue euch nichts«, sagte Lily und kam sich dabei lächerlich vor. Es war auf schmerzliche Weise offenkundig, dass ihr ganzer Körper wehtat. Sie wusste nicht, wie lange sie auf diesem rauen Steinfußboden geschlafen hatte, nachdem sie vor Erschöpfung zusammengebrochen war. Ihre Glieder zitterten noch immer, obwohl das nur zum Teil mit ihrer Müdigkeit zusammenhing. Aber dieser eine Satz reichte aus, um die beiden verstummen zu lassen und Lily erwartungsvoll anzustarren.
    Unglücklicherweise konnte sie in der unerwarteten Stille das Geräusch im Hintergrund vernehmen. Es klang wie ferne, widerhallende Stimmen.
    Nun erinnerte sie sich wieder. Dieser lange, schreckliche Abstieg über die Steinstufen, ohne Licht, in ständiger Furcht, bei der nächsten Bewegung könnte sie kopfüber in den Schacht hinabstürzen. Und um sie herum waren die Stimmen erklungen. Wehklagende, schmeichelnde Stimmen, die von überall zu kommen schienen. In der Welt oben hatte sie Nächte damit verbracht, einen echten Alptraum zu erleben, der ihr Unterbewusstsein Gedanken für Gedanken auseinandergenommen hatte. Und doch war dieser Schacht wegen des Stimmenwirrwarrs noch schlimmer gewesen. Einzig und allein ihren Namen hatte sie ausmachen können. Lily … Lily … Lily … immer wieder, so lange, bis er jede Bedeutung verlor. Es hatte sich so angefühlt, als wäre ihre ganze Welt von Lärm erfüllt.
    Irgendwann hatte sie dann den Grund des Schachts erreicht und die Steinstufen hinter sich gelassen. Danach war sie mit schweren Beinen über den holprigen Boden der Stollen gestolpert. Erst als sich der Druck um sie herum und über ihr veränderte, als sich die Stollen verengten oder zu Höhlen öffneten, hatte sie die Möglichkeit, sich zu orientieren. Nichtsdestotrotz waren die Echos angeschwollen, lauter, immer lauter geworden, hatten in ihren Ohren gedröhnt. Sie war ins Straucheln geraten und hingefallen. Dabei hatte sie das Gefühl gehabt, fast zu verstehen, was die Stimmen von ihr wollten. Doch auf einmal vernahm sie die Geräusche nicht mehr, weil der Weg wieder anstieg.
    »Hörst du eigentlich zu, was ich sage, Wunder?«
    Lily wurde aus ihren Gedanken gerissen. Sie hatte jetzt nicht die Zeit, um über all das nachzusinnen. Diese beiden hier waren merkwürdig, keine Frage, aber gefährlich schienen sie nicht zu sein. Außerdem hatten sie Laternen. Lily wollte nicht wieder allein in der Dunkelheit zurückbleiben.
    »Ja, es geht mir gut … ich …«
    »Gut. Also kannst du noch reden!«, stellte das Mädchen schroff fest. »Der Kakophonie darf man nicht lauschen. Das sage ich dir unentgeltlich.«
    Lily schauderte, versuchte ihre Gedanken zu sortieren. Fang mit etwas Einfachem an …
    »Danke … äh … tut mir leid, wie heißt du?«, fragte sie das Mädchen.
    »Ich bin … Septima«, antwortete das Mädchen vorsichtig und mit einem leicht unbehaglichen Unterton, so als hätte sie es selbst bis zu diesem Moment nicht gewusst.
    »Und du?«, fragte Lily den jungen Mann. Er hielt die Laterne dichter vor ihr Gesicht. Sie sah, wie sich die Flamme in seinen großen, neugierigen Augen spiegelte.
    »Du bist nicht an der Reihe«, sagte er kühl. »Zuerst musst du unsere Fragen beantworten. Eine Antwort gegen eine Antwort.« Er wandte sich Septima zu. »Sind alle aus dem Orchester so begriffsstutzig?«
    »Mag sein«, pflichtete ihm Septima bei und lachte. »Und?«, fügte sie hinzu, sich Lily zuwendend. »Sind sie es? Ich meine, du musst es doch wissen.«
    »Fang mit einer leichteren Frage an«, unterbrach sie der junge Mann. »In meinen Augen sieht sie ziemlich unmusikalisch aus.«
    »In Ordnung«, fuhr Septima fort, als wäre Lily gar nicht da. Sie drehte sich wieder zu ihr um, und
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