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Das Land des letzten Orakels

Titel: Das Land des letzten Orakels
Autoren: David Whitley
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ein robustes Wesen hatte, war sie eher von unerschütterlicher Zielstrebigkeit geprägt als von auf der Straße gewonnener Erfahrung. Es war offenkundig, dass sie sich weit wohler gefühlt hätte, wenn sie in den stromaufwärts gelegenen Stadtvierteln die Oberen der Gesellschaft bewacht hätte, als hier unten im Gassengewirr des Schütze-Bezirks Wache zu schieben.
    »Vielleicht zeigen Sie mir lieber nur die möglichen Verdächtigen, Doktor?«, sagte sie und rümpfte dabei angewidert die Nase. »Ich habe keine Zeit, jeden Schuldner zu befragen, der in Ihrem« – sie stockte und verkniff sich offenkundig einen beleidigenden Ausdruck – »Etablissement landet.«
    »Ich fürchte, das ist nicht möglich, Inspektorin«, erwiderte der Doktor in gemessenem Tonfall. »In den letzten Wochen hat es eine Reihe Patienten mit fiebrigen Erkrankungen gegeben, und ich habe kaum die Zeit, die Namen der Patienten zu notieren, geschweige denn mich an jeden einzelnen zu erinnern.«
    Mark riskierte es, erneut über den Rand der Decke zu lugen. Poleyn stocherte gerade mit ihren langen, eleganten Fingern in eine Decke, mit der sich eine junge Frau umhüllt hatte, so als wären Schuldner grundsätzlich unsauber. Hinter ihr fuhr sich Dr. Theophilus mit den Fingern durch sein lichter werdendes dunkelblondes Haar. Er schlug sich überraschend gut darin, einen hilfreichen Eindruck zu erwecken, doch Mark fiel auf, dass er anfing zu schwitzen. Ob der Doktor schon zuvor einmal Eintreiber belogen hatte?
    In diesem Moment fiel Theos Blick auf ihn. Der Doktor machte mit der Hand hinter seinem Rücken eine hektische Geste, worauf Mark wieder unter der Decke verschwand.
    »Vielleicht können Sie mir etwas über den Fall berichten, Inspektorin?«, sagte Theo, während er aus der Ecke, in der Mark sich versteckte, heraustrat. »Bestimmt könnte ich dann von Hilfe sein.«
    »Es tut mir leid, Doktor, aber absolute Geheimhaltung ist unbedingt erforderlich«, schnaubte die Inspektorin. »Diese Flüchtigen haben den Direktor persönlich bestohlen. Sie müssen verhaftet werden, und zwar rasch.«
    Unter der Decke unterdrückte Mark ein wütendes Knurren. Ja, er hatte den Empfangsdirektor bestohlen, den Herrscher über die Stadt. Aber Mark hatte nichts genommen, was der Mann ihm nicht zuvor selbst weggenommen hatte. Einst hatte Mark im höchsten Turm der Stadt gewohnt – dem Turm des Sterndeuters, im ehemaligen Heim des Grafen Stelli. Mark war berühmt gewesen, ein Wunderkind mit einer scheinbar goldenen Zukunft. Snutworth war sein loyaler Diener gewesen – bis dieser ihn hintergangen und ins Gefängnis hatte stecken lassen. Nun war Snutworth der Herrscher über Agora, und Mark versteckte sich unter den Ärmsten der Stadt, bemüht, sich dem Auge des Gesetzes zu entziehen.
    »Ja, natürlich«, sagte der Doktor ein wenig zu hastig. »Aber solche zu allem entschlossenen Verbrecher würden doch gewiss eher im Rad Zuflucht nehmen als hier. Dort werden sie besser verpflegt und würden in Mr Crede wohl einen Gesinnungsgenossen finden. Wie ich gehört habe, heißt man Eintreiber in diesem Teil der Stadt alles andere als willkommen …«
    »Nachforschungen werden in allen Gegenden angestellt, Sir«, unterbrach ihn Poleyn. Offenbar hatte Theo einen wunden Punkt getroffen. »Doch aus Gründen, die ich nicht preisgeben kann, ist es am wahrscheinlichsten, dass sich die Flüchtigen hier in dieser Gegend versteckt halten.« Sie blickte Theo prüfend an. »Sind Sie absolut sicher, dass hier in letzter Zeit keine verdächtigen Gestalten Unterschlupf gesucht haben? Vielleicht ein Junge von fünfzehn Sommern und eine junge Frau mit goldenem Haar? Sie zumindest sollte nicht schwer zu erkennen sein – sie muss weit sauberer und besser genährt sein als der Großteil dieses Gesindels hier.«
    Mark bemerkte, dass ein Anflug von Besorgnis über Theos Gesicht huschte, doch dieser wusste es gut zu überspielen.
    »Inspektorin, wie Sie bereits bei zahlreichen Gelegenheiten sagten, nehmen wir hier im Tempel jeden auf. Würden wir jemanden auf einen bloßen Verdacht hin abweisen, blieben unsere Betten jede Nacht leer. Unsere Türen stehen für jeden offen.«
    Mürrisch dreinblickend wandte sich Poleyn ab, und Theo begann damit, Betttücher zu sortieren. Mark bemerkte, dass er es gezielt vermied, in seine Richtung oder zu dem Feldbett an der Tür zu schauen, wo die andere Flüchtige nach wie vor reglos dalag.
    Unglücklicherweise steuerte Poleyn nun genau in diese Richtung.
    »Ich kann
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