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Das Lächeln des Cicero

Das Lächeln des Cicero

Titel: Das Lächeln des Cicero
Autoren: Steven Saylor
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gehört.«
    »Wessen Schrei?
Hat Roscius denn geschrien, als er hinuntergestürzt
ist?«
    »O nein. Roscia,
seine Tochter. Ihr Schlafzimmer, das sie sich mit ihrer kleinen
Schwester teilt - liegt gerade noch im Haupthaus, die erste
Tür des Flures.«
    »Das verstehe ich
nicht.«
    Rufus holte tief Luft.
Es fiel ihm offenbar schwer, seine verwirrten Gedanken zu ordnen.
»Ich war schon in mein Schlafzimmer gegangen - in dem ich
immer schlafe, wenn ich über Nacht bleibe. Es liegt in der
Mitte des Hauses, ziemlich genau zwischen Caecilias Gemächern
und diesen hier. Ich hörte einen Schrei, den Schrei eines
Mädchens, gefolgt von lautem Weinen. Ich stürzte aus
meinem Zimmer und folgte dem Geräusch. Ich fand sie hier oben
auf dem Balkon, zitternd und schluchzend im Mondlicht - Roscia
Majora. Natürlich hatte sie schon den ganzen Abend geweint,
aber das war kaum eine Erklärung für den Schrei. Als ich
sie fragte, was denn los sei, zitterte sie so heftig, daß sie
nicht sprechen konnte. Statt dessen zeigte sie auf die Stelle, wo
Sextus Roscius’ Leiche liegen geblieben war.« Er
runzelte die Stirn. »Also war es eigentlich Roscia, die die
Leiche als erste entdeckte, aber ich war derjenige, der dann
runtergerannt ist, um nachzusehen.«
    Ich sah mich zu Tiro
um, der traurig den Kopf schüttelte. Seine schlimmsten
Befürchtungen schienen sich zu bestätigen. »Und wie
kam es, daß Roscia zu dieser Stunde auf genau dem Balkon
stand, von dem ihr Vater gefallen war?« fragte ich.
    »Das habe ich sie
auch gefragt«, sagte Rufus, »nachdem sie endlich
aufgehört hatte zu zittern. Offenbar war sie aus einem
Alptraum hochgeschreckt und wollte auf dem Balkon frische Luft
schnappen. Sie hat eine Weile hier gestanden und den Vollmond
betrachtet, sagte sie, und hat dann zufällig nach unten
geschaut -«
    »Und hat ebenso
zufällig die Leiche ihres Vaters entdeckt, fast zwanzig Meter
entfernt zwischen lauter Blättern, Gras und
Steinen?«
    »So
unwahrscheinlich ist das nicht«, verteidigte Rufus sie.
»Der Mond schien direkt auf die Stelle, ich hab ihn selbst
gleich gesehen, als sie in die Richtung gezeigt hat. Und es war
kein schöner Anblick, seine Gliedmaßen und sein Hals
waren völlig unnatürlich verrenkt...« Er hielt inne,
und sein Atem stockte, als er plötzlich begriff.
    »Oh, Gordianus,
du glaubst doch nicht, das Mädchen hat...«
    »Natürlich
hat sie«, sagte Tiro dumpf aus dem Schatten in unserem
Rücken. »Die einzige Frage ist, wie sie es geschafft hat,
Sextus auf den Balkon zu locken, aber ich bin sicher, das war nicht
weiter schwierig für sie.«
    »Das ist nicht
die einzige Frage«, wandte ich ein, obwohl es reine Pedanterie
zu sein schien, alle Möglichkeiten in Betracht zu ziehen.
»Warum hat sie zum Beispiel geschrien, nachdem sie ihn
gestoßen hat, wenn sie ihn wirklich gestoßen hat, und vor
allem, wenn es ein vorsätzlicher Mord war? Warum blieb sie auf
dem Balkon stehen, bis sie jemand finden konnte?«
    Tiro zuckte
gelangweilt die Schultern; für ihn war die Sache klar.
»Weil die Realität ihrer Tat sie entsetzt hat. Sie ist
schließlich noch ein Kind, Gordianus, keine abgebrühte
Mörderin. Deswegen hat sie auch geweint, als Rufus hinzukam;
das Entsetzen darüber, es wirklich getan zu haben, die
Erleichterung, der Anblick seines zerschmetterten
Körpers...« Tiro schüttelte verzweifelt den Kopf,
aber als ich sein Gesicht sah, halb im Mondschein, halb im
Schatten, las ich darin keine Gedanken an etwas Entsetzliches,
sondern die Erinnerung an etwas, das für immer verloren und zu
schmerzhaft süß zu ertragen war.
    Ich drehte mich um und
blickte in den Abgrund, die tiefe Grube aus Mondlicht und Schatten,
in die Sextus Roscius am Ende gefallen war, ob durch seinen eigenen
Willen oder den eines anderen. Ich kniete mich vor die
Brüstung und strich mit beiden Händen über die bis
auf ein paar Steinchen glatte Oberfläche, die an meinen
Handflächen kleben blieben. Mir kam ein Gedanke.
    »Tiro, nimm dir
eine der Lampen. Halte sie direkt über die Brüstung,
damit ich mir das mal genauer ansehen kann.« Das Licht wankte,
ich blickte auf und sah, daß Tiro, so nahe am Rand stehend,
blaß um die Nase geworden war. »Wenn du sie nicht ruhig
halten kannst, gib sie Rufus.« Tiro übergab die Lampe
ohne Zögern. »Hierher, Rufus«, sagte ich,
»folge mir und halte die Lampe direkt über die
Brüstung.«
    »Paß auf
deine Nase auf«, sagte Rufus, der meine Anspannung spürte
und mit einem Witz zu überspielen suchte.
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