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Das Kreuz des Südens - Exodus aus Europa. Ein Zukunftsroman

Das Kreuz des Südens - Exodus aus Europa. Ein Zukunftsroman

Titel: Das Kreuz des Südens - Exodus aus Europa. Ein Zukunftsroman
Autoren: Johannes Scharf
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eine arabische und eine asiatische Gang von beiden Straßenseiten aus das Feuer gegeneinander eröffnen und sie mitten ins Kreuzfeuer gerät, wie mir Augenzeugen die Situation schildern, während ich gerade dabei bin, die Ein- und Austrittswunden der großkalibrigen Geschosse zu begutachten.“

    „Das ist furchtbar.“

    „Allerdings, aber das dicke Ende kommt erst noch. Von den Tätern wird vermutlich nie jemand geschnappt werden, da es in dieser Ecke keine Kameras gibt, die etwas von Bedeutung hätten aufzeichnen können und die Polizei sage und schreibe eine dreiviertel Stunde brauchte, bis sie am Tatort anlangte, da am Ostende der Stadt mehrere Autos, eine Turnhalle sowie ein Fabrikgebäude von Randalierern ähnlicher Herkunft in Brand gesteckt worden waren, was die gesamte Aufmerksamkeit der Ordnungskräfte erforderte.“
    „Die kommen doch meistens ungeschoren davon, wäre mir neu, wenn es anders liefe“, flötete Francis, „und überhaupt hatte man in der Arbeiterstadt Glasgow nie eine besonders hohe Lebenserwartung.“ Dieser unbedachte Einwand brachte Iain in Fahrt, so daß er vor Wut schnaubte, als er loslegte: „In der Tat, das ist nicht falsch, was Du sagst, die Lebenserwartung war nie besonders hoch, aber es ist auch nicht richtig, denn die Ursachen waren andere, und sie lag gleichwohl weit über vierzig Jahren!“ Er holte kurz Luft und fuhr dann fort: „Früher starb Eddie Burns von nebenan mit fünfundsechzig, weil er jeden Abend nach getaner Arbeit in O’Kellys Pub hockte und sich mal mehr, mal weniger volllaufen ließ, je nachdem, wie es mit dem Geld hinhaute. Seine Leber gab dann irgendwann mit Mitte sechzig den Geist auf, und das war zumeist das friedliche Ende vom guten alten Burns.“

    Sie sah ihn etwas entgeistert an, aber durchaus nicht gewillt, ihn zu unterbrechen. „Möchtest Du wissen, wie Eddies Leben heute verlaufen würde, Schätzchen?“ Als sie diese seine Frage mit eifrigem Kopfnicken bejahte, begann er wiederum: „Heute möchte Eddie Burns gerade aus dem Haus gehen, es ist sein fünfunddreißigster Geburtstag, sein Ziel ist O’Kellys Kneipe und sie liegt gerade auf der anderen Straßenseite; alles, was er also zu tun braucht, ist die verfluchte Straße zu überqueren. Aber es kommt anders.

    Schon in dem Augenblick, in dem er einen Fuß aus seiner Wohnungstüre setzt, wird er von einer sechs- oder siebenköpfigen Gruppe arabischer Jugendlicher bedroht, die an ihm herumzerren, ihm seine Brieftasche abnötigen und abwechselnd auf ihn einschlagen. Als sie feststellen, daß ihre gesamte Ausbeute nicht mehr als zwanzig Pfund beträgt, geraten die Jugendlichen darüber dermaßen in Zorn, daß sie ihre Messer zücken und den armen Mann niederstechen. Eddie geht, mit Einstichwunden nur so übersät, zu Boden und verblutet wenig später. Während die Täter ihre blutigen Messer an seiner Hose abwischen, spucken sie ihm ins Gesicht und beschimpfen ihn als Weißarsch und Scheißschotten, dann ziehen sie weiter. Und ihre Beutelust, Du weißt es, ist noch ungestillt.“ Wieder legt Iain eine kleine Pause ein und blickt nachdenklich zum Fenster hinüber, dann sagt er mit gedämpfter Stimme: „Dabei hätte Eddie im Glasgow unserer Väter und Großväter noch mindestens dreißig schöne Jahre zu verleben gehabt, dreißig Jahre…“
    Sie saßen eine Zeitlang schweigend auf der Wohnzimmercouch und hingen jeder für sich ihren Gedanken nach. Francis ließ besonders das Gesagte auf sich wirken und verglich das eben von Iain gezeichnete Bild der Stadt vor ihrem geistigen Auge mit ihrer Wahrnehmung Glasgows und des Landes überhaupt. Sie fand kaum Dissonanzen. Dann blickte sie ihrem Partner tief in die klaren, grauen Augen und fragte mit Nachdruck: „Aber was hält Dich dann noch hier, Iain?“ Sie lag ihm damit seit langem in den Ohren. Ihr Wunsch war es, nach Australien oder Neuseeland auszuwandern. Und er selbst wollte es mittlerweile auch. Er hatte immer die Arbeit vorgeschoben, wie wichtig sie ihm sei und wie sehr er an seiner Heimat, an Schottland und insbesondere an Glasgow, hänge.

    Es wurde ihm immer mehr bewußt, daß dies eine Lüge gewesen war, er hing nicht eigentlich an der Stadt, an ihrem Putz und Stein, er hing an den Menschen, die hier einst mit ihm gelebt und ihm etwas bedeutet hatten. Natürlich bot das alte Glasgow zu diesen Empfindungen die beste Kulisse, aber wenn die Menschen fehlten, dann war etwas Wesentliches herausgerissen, das Prägende war der Stadt genommen.
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