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Das Kreuz des Südens - Exodus aus Europa. Ein Zukunftsroman

Das Kreuz des Südens - Exodus aus Europa. Ein Zukunftsroman

Titel: Das Kreuz des Südens - Exodus aus Europa. Ein Zukunftsroman
Autoren: Johannes Scharf
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Brauch, der von alters her so bestanden hatte, wurde abgeschafft, da die Menschen ja selbst über Uhren verfügten, wie man behauptete, und keine Glocken mehr bräuchten, die überdies eine lästige Lärmbelästigung darstellten. Was ich mich nun frage, Kinder: wenn das Glockengeläut nicht mehr ist, weil wir über Uhren verfügen, die uns die Zeit lautlos verraten, warum um alles in der Welt muß dieser Schreihals dann die Muselmänner an ihre Gebetszeiten erinnern, sind die vielleicht alle so vergeßlich?“ Die beiden nickten nachdenklich, und auch Susan stimmte ihrem Mann zu, indem sie ausrief: „Ich will verdammt sein, darüber habe ich selbst nie nachgedacht, aber da ist auf jeden Fall was Wahres dran, George!“

    Sie hatten den Muezzin aber recht schnell wieder vergessen. Das Tischgespräch verrann in Banalitäten. „Reichst Du mir bitte die Milch, Tom?“ sagte Scarlett. „Ich hab es eilig, denn ich muß noch ein halbes Kapitel aus diesem Buch für die Schule lesen. Da kam ich gestern nicht mehr dazu.“ „So,“ brummte ihr Vater, während Thomas ihr die Milchtüte in die Hand drückte und sie hastig ihre Müslischüssel damit füllte, „was ist das denn für ein Buch?“ „Frag nicht, es wird Dir nicht gefallen, Du hast zu hohe Ansprüche“, flötete Susan. „Ja, ich glaube auch nicht, daß es Dir gefallen würde, Pa“, gab seine Tochter zur Antwort.
    „Es ist von so einem unbedeutenden Rapper geschrieben und trägt den einfallsreichen Titel ‚Me‘.“

    „Me?“ fragte der Vater ungläubig. „Wer kommt denn auf die verquere Idee, euch so was Bescheuertes lesen zu lassen?“

    „Mrs. Albright. Sie sagt, wir sollten wissen, wie es für Schwarze in Großbritannien ist, die im Ghetto aufwachsen müssen und sich nur durch ihre Musik emanzipieren können, wenn sie Talent haben, so wie der Typ, um den es in dem Buch geht. – Außerdem sei die Autobiografie leicht geschrieben und recht gut verständlich für jedermann.“

    „Das ist ja mal wieder typisch! Über Schwarze sollt ihr Bescheid wissen, die hier im Ghetto leben müssen. Müssen muß hier keiner was; wenn es ihnen nicht gefällt, können sie doch wieder dahin zurückgehen, wo sie hergekommen sind. Das ist meine Meinung.“

    „Ach, Dad, beruhige Dich. Ich kann daran nichts ändern.“

    „Und überhaupt, Scarlett, eine Lektüre, die man in der Schule zusammen liest, sollte nicht aufgrund ihrer leichten Verständlichkeit ausgewählt werden. Im Gegenteil, sie sollte eine anspruchsvolle Sprache haben, sonst ist der Sinn und Zweck einer Lektüre verfehlt und man hätte die Unterrichtszeit besser anders genutzt, als sie mit Trivialliteratur zu füllen. Was ist denn mit den Klassikern auf einmal verkehrt? Was stimmt nicht mehr mit Stevenson, Sir Walter Scott, Dickens, Twain oder Defoe? Oder was ist mit den Dramatikern, den antiken oder jenen des Mittelalters? Wir haben damals Shakespeare gelesen, ‚Macbeth‘, ‚Hamlet‘, ‚Julius Caesar‘. Das war noch Literatur, nicht so ein Schund wie ‚Me‘!“

    George mußte nun einen Augenblick verschnaufen, denn er hatte beim Sprechen kaum Luft geholt, so aufgebracht war er. Diese Gelegenheit nutzte Scarlett, die in der Zwischenzeit in Windeseile ihre Schüssel ausgelöffelt hatte, um aufzustehen und sich mit folgenden Worten zu entschuldigen: „Ich kann Deinen Ärger verstehen, Pa, aber die Zeiten ändern sich nun mal – und wir ändern uns mit ihnen.“ Sie trug ihre Schüssel in die Küche, stellte sie in die Spülmaschine und verschwand dann nach oben in ihr Zimmer, wo sie das Versäumte in Ruhe nachzuholen gedachte.
    Sie war eine reizende junge Dame, die schöner kaum hätte sein können. Das lange, volle, goldblonde Haar fiel ihr über Rücken und Schultern herab, den Pony hatte sie zu kleinen Zöpfen geflochten, die ihr Haupt gleichsam umkränzten, und um ihre Lippen spielte fast immer ein warmes, gewinnendes Lächeln. Ihre weichen Gesichtszüge und der Glanz in ihren klaren, blauen Augen ließen ein gutmütiges Wesen und einen ehrlichen Charakter vermuten. Und wenn man es auch – nur aufgrund ihrer äußeren Erscheinung – nicht mit Sicherheit behaupten konnte, daß sie aufrichtig und wohlwollend war, so mußte es doch jeder von ihr annehmen, der sie sah.

    Jetzt, da sie zu lesen begann, ließ sie parallel dazu – denn das Lesen erforderte in diesem Falle nicht gerade sehr viel Aufmerksamkeit – das Tischgespräch noch einmal Revue passieren. Sie ertappte sich dabei, wie sie
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