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Das Knistern in den Sternen: Roman (German Edition)

Das Knistern in den Sternen: Roman (German Edition)

Titel: Das Knistern in den Sternen: Roman (German Edition)
Autoren: Jón Kalman Stefánsson
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seine Augen gefressen! Nicht wegsehen! Bitte, tu’s für mich, sieh hin! Weißt du noch, wie die Augen deiner Mutter waren? Bestimmt erinnerst du dich noch. Du musst dich an sie erinnern, denn inzwischen werden die Würmer sie gefressen haben, und mit Sicherheit verbreitet sie jetzt auch diesen schrecklichen Gestank. Sie ist voller Würmer und Larven. Nein, nicht wegsehen!« Seine Linke trifft meine Schulter, ehe mich meine Füße in Sicherheit bringen können. Er ringt mich zu Boden, fast behutsam. Er setzt sich rittlings auf mich, seine Rechte packt mein Haar und hält meinen Kopf fest, während seine Linke versucht, mir den toten Vogel in den Mund zu stopfen.

Ein paar Worte über die Nacht
    Die Nacht ist wechselhaft und launisch. Manchmal bläst sie nur ganz leise in die sterngefüllte Sackpfeife und verwandelt Mächte der Dunkelheit und Furcht, die die Welt beherrschen, in ein wehmütiges Wiegenlied, manchmal ist sie hell wie der Tag, und die Gespenster, die sich aus der Erde trauen, platzen mit einem leisen Knall. In alten Büchern wird die Nacht nicht als Dunkelheit beschrieben, sondern als Zeit, in der der Schlaf alles Lebendige zur Ruhe bringt, kein Lüftchen sich regt, das Wispern der Sterne leise wird, und die Welt den Atem anhält. Es steht geschrieben, dass gerade diese Stille die Erde, das Reich der Toten, mit unerträglicher Unruhe erfüllt. Die Toten wälzen sich in ihren Gräbern, und davon zittern die Blätter an den Friedhofsbäumen selbst bei Windstille.

Wird es dann dunkel und still?
    Es ist Nacht, so hell, wie sie Ende Mai nur sein kann. Die Sonne hängt tief am Osthimmel, schwer und glühend vor Müdigkeit. Kein Auto durchbricht die Stille, kein Laut, und es ist vermutlich diese unheimliche Stille, die mich aufweckt. Ich öffne die Augen einen Spalt, sehe, dass die britische Armee auf dem Schreibtisch in stummem Schrecken gebannt ist, und sehe, dass die Partisanen oben auf dem Regal vor Angst wie gelähmt verharren. Alle starren wie ein Mann zur angelehnten Tür meines Zimmers. Ich schließe die Augen, drehe mich um und vergrabe das Gesicht im Kissen. Keine Macht der Welt bringt mich dazu, die Augen zu öffnen und zur Tür zu blicken. Ich hebe den Kopf und gucke. Irgendetwas kommt näher.
    Ein undeutlicher Schatten fällt durch den Türspalt, und dann wird leise mein Name geflüstert. Sehr leise. Vorsichtig geht die Tür auf, wie in einem Traum, und meine Mutter tritt ein. Ihr gutes schwarzes Kleid ist zerrissen, ihre hellen Kniescheiben scheinen durch. Ich kapiere nicht, wie sie mich sehen kann, denn ihre beiden Augen sind aufgefressen. Sie waren einmal grau. Ich begreife auch nicht, wie sie – fast ein wenig vorwurfsvoll – flüstern kann: Du bist aber gewachsen! Denn auch ihre Lippen und die Zunge sind weggefressen. Ihr Mund ist nur ein dunkles Loch. Sie kommt näher, und ihre Hände berühren mich an den Schultern. Ihre Hände, die einmal Juni und August mit einem ewigen Juli dazwischen waren, sind eiskalt. Es wird kühl im Zimmer, ich schlottere vor Kälte, und das Einzige, das wärmt, ist körperwarmer Urin. Ich falle aus dem Bett, die eiskalten Hände meiner Mutter schleifen mich fort, über die Schwelle, aus dem Zimmer. Bestimmt fühlt sie sich einsam in der Erde, außerdem kann sie nicht mehr singen, sie hat keine Lippen mehr und keine Zunge. Sie möchte mich bei sich haben, sie möchte in meinem Haar wuscheln, während mich die Würmer fressen, und es ist ganz in Ordnung so, wenn sie nur weiter in meinen Haaren wuschelt; dann vergesse ich alles, nur nicht, dass wir zusammen sind, aber ich habe doch ein wenig Angst davor, wenn sie mit den Augen anfangen, das tut bestimmt weh, nur nicht aufhören, in meinen Haaren zu wuscheln, du, mit Händen, kalt wie Januar, nicht aufhören, bloß nicht aufhören!
    Und dann wird es dunkel und still.

18
    Im Vergleich zu Arnarstapi ist Reykjavik eine laute und beängstigend große Stadt. Großvater und seine kleine Schwester können sich nicht recht entscheiden, ob sie eingeschüchtert oder neugierig sein sollen. Ihre ältere Schwester geht alte Freunde besuchen. Sie kommen bei Gu5rün in der Vesturgata unter. Urgroßmutter blickt zu einem Giebelfenster auf. »Schick mir den Burschen, ich werde ihm die Leviten lesen!«, knurrt die Vesturgata unter dem Fenster. Gudrun hat Neuigkeiten von Urgroßvater. »Allerdings sind es keine verlässlichen Nachrichten, sondern eher Klatschgeschichten, und ich weiß nicht, ob ich überhaupt etwas davon erzählen
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