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Das Knistern in den Sternen: Roman (German Edition)

Das Knistern in den Sternen: Roman (German Edition)

Titel: Das Knistern in den Sternen: Roman (German Edition)
Autoren: Jón Kalman Stefánsson
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hätten. Und sie hätten bestimmt nie das Wachstum der Pflanzen im April geprüft oder auf das Brausen des Windes gehört, um herauszubekommen, ob es in der Nacht friert. Stiefmutter kann sich total darüber aufregen, Papa pflichtet ihr die ganze Zeit bei, es sei absolut richtig, was sie sage, und ich wage nichts anderes, als zu gehorchen. Traue mich nicht einmal, den Anorak auszuziehen, als ich draußen bin und sie mich nicht mehr sehen können. Da stehe ich also vor Safamyri Nr. 54, die 125 Zentimeter große, rothaarige und sommersprossige Personifikation der Erklärung meiner Stiefmutter, dass sich der Kalender und sogenannte Experten irren. Petur guckt mich an. Er trägt kurze Hosen und lutscht eifrig an einem Eis. Dabei zittert er ein wenig. »Komm«, sage ich und ziehe ihn mit mir, ehe die Brüder und Agnes aus dem Haus kommen, ehe sie mich wie einen Doofmann in Anorak und Kordhosen sehen.
    »Komm!«, sage ich.
    Und wir gehen. Weit. Den ganzen Weg an den Blöcken vorbei bis in den Ampferwald, der sich unterhalb des letzten Wohnblocks ausbreitet, ein riesiges Gebiet, durchschnitten von der Miklabraut. Es ist gefährlich, sich in diesen Wald zu begeben, da gibt es Sumpflöcher, die machen »Schwupp«, und du bist auf ewig von der Bildfläche verschwunden. An manchen Stellen steht der Wald so dicht, dass du nur deinen Arm auszustrecken brauchst und hast ihn schon verloren. Du verlierst die ganze Welt und findest bloß noch Angst an ihrer Stelle.
    Die längsten Stängel des Großen Ampfers sind höher als Petur oder ich, und wenn wir uns auf den Boden setzen, verschwindet alles, bis auf den Himmel. Wir werden unsichtbar. Mit denen, die unsichtbar sind, die Geräusche der Welt aber noch hören, verhält es sich nun so, dass sie von einer seltsamen Unruhe erfasst werden, die sie nicht anders abschütteln können als indem sie sich völlig ausziehen und mit Ringergriffen umklammern, die weder Umarmungen noch eine echte Rauferei darstellen.
    Dann liegen wir außer Atem da.
    Petur und ich.
    Haben alles verloren, bis auf den Himmel über uns. Liegen dicht nebeneinander. »Bald wird es Sommer«, sagt Petur. »Ja, Mann«, sage ich. »Das wird klasse. Dann machen wir was.« »Ja, Mann«, sagt Petur.
    Es wird kühl, die Erde ist noch kalt nach dem Winter, und das Einzige, das wärmt, ist seine Gegenwart.

Wer von einer Gewehrkugel getroffen wird, zuckt zusammen
    Es ist Mai geworden. Wir sitzen an der Südseite des Blocks, Petur, ich, die Brüder und Agnes. Es ist so warm, dass wir die Pullover ausziehen, aber es reicht, einmal um die Ecke zu gehen, und schon erinnert uns der Nordwind kräftig an den Winter. Agnes und Petur spielen Schach, sie spielen viele Partien pro Tag und haben Ende April das erste Schachturnier des Blocks ausgerichtet. Die beiden haben punktgleich mit weitem Abstand vor allen anderen gewonnen. Petur hat das Ergebnis schriftlich festgehalten und in sämtliche Briefkästen verteilt. Sie spielen, die Partie steht Spitz auf Knopf. »Ich schlage dich«, sagt Agnes und grinst übers ganze Gesicht, da zittert die Erde und der fiese Frikki kommt um die Hausecke.
    Er kommt auf uns zu, stößt mit dem Fuß die Figuren um, sieht Petur an und sagt: »Du hast doch dieses beschissene Schachturnier gewonnen. Deshalb wirst du jetzt gegen mich spielen!« Als Agnes einwirft: »Wir waren beide auf dem ersten Platz«, zischt er aus dem Mundwinkel: »Halt die Klappe, du verkrüppelte Möse!« Tryggvi springt sofort auf, wie ein schreiender Falke oder so, doch Frikkis Faust schießt vor, und Tryggvi wälzt sich japsend auf dem Bürgersteig.
    Frikki tritt ihm noch einmal in die Seite, befiehlt mir, die Figuren aufzustellen, und die Partie beginnt. Petur hat so die Hosen voll, dass er kaum denken kann, und jedes Mal, wenn er seine zitternde Hand über das Schachbrett hält, spürt er Frikkis blauen Blick auf seinem Gesicht. Nach knapp fünfzehn Zügen sieht es nach einem lächerlich leichten Sieg für Frikki aus. Petur spielt wie ein blutiger Anfänger, selbst ich könnte ihn jetzt schlagen. Frikki grinst uns an, und Petur ist den Tränen nahe, als sich Agnes zu ihm beugt und ihm nur ein paar Worte ins Ohr flüstert. Frikki räuspert sich und rotzt in Agnes’ Richtung. Die Ladung landet in ihren Haaren. Aber als Petur das nächste Mal seine schöne, weiße und sensible Hand ausstreckt, ist das Zittern daraus komplett verschwunden, und er spielt, wie er es eigentlich kann. Wenig später blickt Frikki vom Schachbrett auf. Seine
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