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Das Knistern in den Sternen: Roman (German Edition)

Das Knistern in den Sternen: Roman (German Edition)

Titel: Das Knistern in den Sternen: Roman (German Edition)
Autoren: Jón Kalman Stefánsson
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soll.«
    »Klatsch muss nicht unbedingt schlimmer als die Wahrheit sein«, gibt ihr Urgroßmutter zur Antwort.
    »Doch, Klatsch und Gerüchte sind das Unkraut der Zunge«, sagt Gudrun, »aber es ist wahrscheinlich besser, wenn du das Ärgste von mir erfährst.«
    Urgroßmutter hört sich alles an und geht am nächsten Tag zum Friedhof. Dort steht ein einfaches Holzkreuz mit dem Namen einer Frau darauf. Urgroßmutter lässt sich auf die Knie nieder und bringt das Grab in Ordnung. Dabei spricht sie. Sie redet viel, und Erde setzt sich unter ihre Fingernägel. Es stellt sich heraus, dass es nahezu unmöglich ist, Gerüchte und Wahrheit auseinander zu halten. Angeblich hat Urgroßvater eine Kuh gekauft oder ein Auto, Möbel aus dem Fenster geworfen, sich geprügelt, Geld geliehen, und eine Frau sei auch im Spiel, womöglich sogar zwei Frauen. Urgroßmutter sucht verschiedene Leute auf, sie fragt und fragt. Es sind Fragen, die um sie herum betretenes Schweigen entstehen lassen. Sie fragt immer weiter nach und erhält schließlich den Namen einer Frau: Sölveig. Wütend und voller Rachegedanken sucht Urgroßmutter sie auf. Da bricht sie schnell in Tränen aus, diese Sölveig. Sie ist noch eine junge Frau von zweiundzwanzig Jahren. Blondes Haar, blaue Augen und eine Haut wie Seide. Urgroßmutter streicht ihr über diese Haut. »Wie Seide«, sagt sie.
    »Ich hatte ja keine Ahnung, dass er verheiratet ist!«, heult Sölveig auf.
    »Aber natürlich hast du das gewusst«, erwidert Urgroßmutter ruhig und geradeheraus. »Bist du in Umständen?«, fragt sie, und da schwillt das Weinen noch lauter an. Anschließend geht Urgroßmutter zu Gisli. Er hat hoffentlich einen Überblick darüber, ob die Schulden, in die sich Urgroßvater gestürzt haben soll, Bagatellbeträge oder eine ernste Sache sind. Urgroßvater hat die fatale Neigung, auf seinen Sauftouren mit großen Summen um sich zu werfen. Einmal kaufte er bei einer solchen Gelegenheit ein gottverlassenes Tal, das irgendwo im Osten tief in die Einöde führte. »Ein Mann muss eigenen Grund und Boden besitzen«, hatte er damals geäußert. »Eine eigene Heimstatt mit Land. Dann hast du wenigstens schon mal die Erde für deine Knochen und bist insoweit auf der sicheren Seite.« Diesmal aber verhielt es sich nahezu umgekehrt, er war als landbesitzender Bauer nach Reykjavik gekommen. »Barðastaðir ist mein Land«, hatte er zu Gisli gesagt, der gerade eine Zigarre raucht und sich dazu ein Gläschen genehmigt. Urgroßmutter muss sich mit einer heißen Schokolade zufrieden geben. Die beiden sitzen in Gislis Bibliothek, sie auf dem Sofa, er in einem hohen und ausladenden Ledersessel. Langsam und bedächtig raucht er seine Zigarre und denkt an Urgroßvater, der mit dem Kopf voller Ideen und Zukunftsträume in Reykjavik aufgetaucht war. Ein Traktor, ein größeres Boot, sechzig Schafe und Anteile am Handel in Arnarstapi. »Die verstehen da nichts von Geschäften«, hatte er entrüstet gesagt.
    »Du weißt, wie er sich aufführt, wenn er in dieser Stimmung ist«, sagt Gisli. »Sein Gesicht strahlt vor Begeisterung, und jedes Mal soll man sich wider alle Vernunft und allen Verstand mitreißen lassen. Man will ihm sogar glauben. Ich denke, das ist der Punkt. – Im übrigen waren seine Ideen gar nicht so abwegig. Sie stimmten mit dem überein, was sich derzeit in den fortschrittlichsten Landgemeinden tut, aber … nun ja, er ist wieder einmal abgestürzt. Im Suff hat er sich ein Auto gekauft. Ja, es stimmt, er hat ein Auto gekauft«, sagt Gisli und schüttelt den Kopf. Dabei presst er die Lippen zusammen; vielleicht, um sich ein Lächeln zu verkneifen. »Und einen Chauffeur eingestellt. Gleich bei der ersten Ausfahrt sind sie einem Bauern mit einer Kuh am Halfter begegnet. Es war ein Stückchen außerhalb der Stadt.«
    »Wohin des Weges?«, fragte Urgroßvater, und der Bauer wollte mit der Kuh zum Schlachthof. »Sie ist doch noch gar nicht so alt«, stellte Urgroßvater fest und schaute der Kuh in die großen, traurigen Augen. »Nein, alt ist sie nicht, aber mit der Wirtschaft ist es eben nicht gut bestellt«, gab der Bauer Bescheid und schaute erst die Straße entlang und dann zum Himmel auf. Er räusperte sich, spuckte aus und zuckelte mit der Kuh am Halfter weiter. Urgroßvater kletterte aus dem Wagen und ging dem Bauern nach. »Hör mal!«, sagte er und zog einen Flachmann mit geschmuggeltem Cognac aus der Tasche. Eine halbe Stunde später hatten sie einen glatten Tausch ausgehandelt:
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