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Das Knistern in den Sternen: Roman (German Edition)

Das Knistern in den Sternen: Roman (German Edition)

Titel: Das Knistern in den Sternen: Roman (German Edition)
Autoren: Jón Kalman Stefánsson
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das Fahrrad verschwunden und Gunnhildur auch. Sie hat nie auf dem Gepäckträger gesessen. »Komm her!«, sagte Urgroßmutter, und die Muschel rauschte unter dem Kopfkissen. Diese Muschel hatte der Mann gefunden, der Töbielk hieß oder auch Jön, ein rothaariger Seemann am Snæfellsjökull, der Urgroßmutter neunzehn Briefe schrieb, neunzehn lange
    Briefe, die wir nach ihrem Tod in einem verschlossenen Kästchen gefunden haben. Der Dichter schloss es auf und stieß einen Laut der Überraschung aus, ich saß auf dem Sofa und ließ die Konfektstücke in meinem Mund schmelzen, Großvater legte das Gemälde des Snæfellsjökulls weg, sah seinen Bruder an und fragte: »Was ist los?« Die vier Geschwister lasen die Briefe, mehrere von ihnen fünfzehn oder zwanzig dicht beschriebene Seiten lang. Der rothaarige Kapitän war irgendwo in Amerika gestorben.
    »Ich erinnere mich«, schreibt er, »dass ich deiner kleinen Tochter einmal eine Muschel geschenkt habe, und in dem fünfzehn Jahre alten Brief von dir, in dem du mir den Tod deines Mannes mitteilst (ich konnte ihn gut leiden, there was something about him, wie man hierzulande sagt), heißt es, die Kleine schlafe noch immer mit der Muschel unter dem Kopfkissen. Das hat mein Herz erfreut, denn es gibt mir das Gefühl, meine Hände seien noch immer in deinem Leben gegenwärtig. Ich habe lange darüber nachgedacht, ob ich nicht nach Island zurückkehren und in deiner Nähe noch einmal aufleben sollte. Ich weiß nicht, was mich davon abgehalten hat, aber ich lebe seitdem auf ewig im Schatten dieses Zögerns. Weißt du noch, wie ich mir einmal wie der letzte Angeber die Kleider vom Leib gerissen und einen schweren Schrank für dich getragen habe? Damals hast du gesagt: ›Ich werde vielleicht noch an dich denken.‹ Trotzdem beklage ich mich nicht über mein Leben. Ich habe dieses Riesenland Amerika bereist und die Menschen kennen gelernt, das Gemeine an ihnen, aber auch das Schöne. Ich habe mich nützlich gemacht, manchem eine helfende Hand gereicht, und sie nennen mich hier den alten Isländer, einige wenige auch mit dem Namen, den du mir gabst, Töbielk. Die drei Waisenkinder, die ich zu mir genommen habe, kennen mich nur unter diesem Namen. Ich habe ihnen tausend, nein, zehntausend Geschichten über dich erzählt. Das Foto, das dem Brief beilag, von dir und deinem dreijährigen Jungen, verwahre ich sicherer als mein Herz. Tausend oder zehntausend Mal habe ich es hervorgeholt und den Kindern von dir erzählt. In einigen dieser Geschichten reisen wir beide zusammen nach London oder Moskau, in den meisten aber ragt unser Gletscher bis in den Himmel. Es macht Spaß, sich solche Geschichten auszudenken, ich glaube am Ende selbst, dass sie wahr sind, und das bereichert mein Leben. Du schreibst in deinem Brief (den ich so oft gelesen habe, dass die Blätter kaum noch heil sind): ›Verzeih mir die Eitelkeit, dir ein fast zehn Jahre altes Bild von mir zu schicken.‹ Ich entgegne dir darauf: Es ist keine Eitelkeit, denn so hast du ausgesehen, als uns das Leben zusammenführte. Manchmal vertiefe ich mich in die Gesichtszüge des Jungen, kann darin aber nichts finden, das mir ähnlich sähe. Doch ich bewahre mir diesen Traum. Danke, dass du ihn mir nie genommen hast! Jetzt bin ich ein alter Mann. Weißt du, dass die Prärie hier an das Meer erinnert, nur dass man hier an den Steinen horcht und nicht an Muscheln.«
    Nicht an Muscheln. Das kleine Mädchen schlief mehr als siebzig Jahre lang mit dieser Muschel unter dem Kissen. Es wuchs heran und bekam selbst ein Kind, das die Augen eines Engels hatte. In seinem Kopf aber herrschte das Weiß von Schnee und Totenstille. Sieben Jahre lang guckte es mit diesen Augen in die Welt und begriff doch nie etwas. Dann starb es.
    Es ist lange her, dass ich mich getraut habe, meine Großtante zu besuchen.
    Dazu muss ich weit, weit durch öde Landschaften fahren, über sturmzerzauste Geröllflächen, vorbei an verfallenen Häusern, einem Schutthaufen der Trolle, Tausende von Möwen kreischen, und ich rieche den Geruch des Todes. Die Tante erkennt mich schon lange nicht mehr und tappt durch die langen Gänge wie eine aufgezogene Puppe, starrt vor sich hin, ohne etwas zu sehen, wankt durch die gesichtslose Landschaft zwischen Leben und Tod. Niemandsland.
    Und das ist alles, was von sechs, nein, sieben Leben geblieben ist, wenn wir den rothaarigen Seemann mitzählen; alles, von hundertfünfzig Jahren, von Mond und Sternen, zwei Weltkriegen,
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