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Das Knistern in den Sternen: Roman (German Edition)

Das Knistern in den Sternen: Roman (German Edition)

Titel: Das Knistern in den Sternen: Roman (German Edition)
Autoren: Jón Kalman Stefánsson
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Kraft in den Armen oder wie gut man im Fußball ist, keine Rolle, auch der Altersunterschied ist keine Garantie für den Sieg. Unglaubliche Dinge tun sich. Bislang bedeuteten Peturs Leistungen im Fußball oder in den Bandenkriegen, die manchmal ausbrachen, wenn ein entferntes Wohnviertel eine Horde von Kriegern aussandte, eine ewige und unauslöschliche Schande für ihn – doch mit dem Schachspiel war das alles vergessen. Es änderte alles. Ja, und eines Tages spielen Tryggvi und ich gerade Fußball hinter dem Block.
    Wir schießen mit voller Wucht und achten kein bisschen auf die großen Kellerfenster, die sich wie Schreie der Verzweiflung den Block entlangziehen. Der Ball rollt, doch da ruft jemand unsere Namen. Wir schauen hoch und sehen Agnes auf ihrem Balkon in der dritten Etage. Sie ruft und fordert uns zu einer Partie Schach heraus. Ist Agnes noch in Erinnerung? Sie ist das Mädchen, das einmal die Fernsehantenne angefasst und eine gewischt bekommen hat. Sie hat fast alle Kraft in ihrem rechten Arm verloren, und das rechte Bein zieht sie seitdem etwas nach. Auch ihr rechter Mundwinkel hängt herab, als wäre er tot.
    »Ziehen wir sie ab!«, meint Tryggvi siegessicher, und wir stürmen die Treppe hinauf, nehmen uns allerdings vor dem Stock des Alten in Acht. Agnes hat im Wohnzimmer das große Schachspiel aufgestellt. Tryggvi wirft sich in einen Sessel, eröffnet ohne zu zögern, indem er den weißen Königsbauern zwei Felder vorzieht und in seinem nächsten Zug die Dame selbstsicher über das Brett rauschen lässt, drohend und zugleich den eigenen Bauern schützend. Agnes denkt nach. Wir vermeiden es, ihren rechten Arm anzusehen, der schwer und leblos auf dem Tisch liegt, oder den rechten Mundwinkel, der einen immer an irgendeine zähe Flüssigkeit denken lässt. Lange schaut sie die Dame an. »Gibst du auf?«, fragt Tryggvi grinsend. Fünf Minuten später steht er auf, blass vor Wut. Er hat die Dame, beide Läufer, Türme und die Hälfte seiner Bauern verloren und wurde von einem Turm und zwei Bauern matt gesetzt. Die schwarze Dame hat sich während der gesamten kurzen, aber erbitterten Partie nicht bewegt. Agnes spielt ähnlich wie Tryggvi, immer offensiv, aber sie agiert noch entschlossener, rücksichtsloser und verschlagener, als wir es bis dahin je erlebt haben. Ich nehme ihr gegenüber Platz, wir fangen an, ich baue unwillkürlich eine Verteidigungsstellung auf und stehe doch wie ein einbeiniger, waffenloser Soldat einem Kampfjet gegenüber. Nach sechs Zügen bin ich matt.

Würstchen zum Essen
    Unsere Niederlagen gegen Agnes und die Schilderungen ihrer Kampfkunst bekommen kräftige Beine, die von einem Treppenhaus zum nächsten eilen und auch die anderen Kinder einholen. Es ist aber nicht ihre Freude über den Sieg, die diesen Neuigkeiten Beinemacht, sondern Tryggvis unverhohlene Bewunderung, jawohl, Bewunderung, und wären wir zehn Jahre älter, würde ich sogar ein zweifelhaftes und brandgefährliches Wort wie Liebe verwenden. Jedenfalls ist es ein Gefühl, das Tryggvi so unvorbereitet, schnell und heftig überfällt, dass es wie ein leiser Stromschlag durch seinen Körper fährt. Ich höre das Summen, blicke von meiner totalen Niederlage auf und sehe, wie Tryggvi Agnes völlig gebannt ansieht. In den nächsten Tagen hat er nichts Besseres zu tun, als überall herumzuposaunen, wie uns Agnes in Grund und Boden gespielt hat, und unermüdlich ihre Spielweise zu beschreiben, die allerdings unbeschreiblich sei. Tryggvi redet nur noch von Agnes, er verprügelt alle, die ihren hinkenden Gang nachahmen, er will sie heiraten: Er wird abends nach Hause kommen, seinen riesigen Laster vor dem Block abstellen und Agnes in die Zunge beißen. Abends wird er auf dem Sofa sitzen, die Beine auf dem Tisch – der linke große Zeh guckt durch ein Loch im Strumpf -, er wird Agnes zusehen, die über das Schachbrett gebeugt dasitzt, und es wird Würstchen zum Abendessen geben.

Es wird Frühling
    Eines Morgens flaggt der Kalender den ersten Sommertag. Alle Jungen kommen in kurzen Hosen, manche sogar in T-Shirts. Wer aber wie der letzte Doofmann in Anorak und blauen Kordhosen dasteht, ist kein anderer als ich. Stiefmutter lehnt es ab, sich nach dem Kalender oder Presseverlautbarungen in Rundfunk und Zeitungen zu richten. Sie verbietet mir, kurze Hosen zu tragen, und befiehlt mir, den Anorak überzuziehen. Sie sagt, dass die, die den 24. April zum ersten Sommertag bestimmt haben, ihr Lebtag nicht in Salzwasser gepinkelt
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