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Das kleine Reiseandenken

Das kleine Reiseandenken

Titel: Das kleine Reiseandenken
Autoren: Berte Bratt
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besser als das Taschentuch.“
    „Nicht wahr? – Jetzt mußt du aber rausgucken, Ingrid, Gleich kommen wir an die berühmte Brücke.“
    Ingrids Reiseunruhe hatte sich gelegt. Jetzt genoß sie es aus ganzem Herzen, Neues zu sehen und zu erleben. Sie sperrte die Ohren auf, um die Laute der fremden Sprache aufzufangen, die von dem Gang zu ihr hereinschollen, und achtete auf die Namen der Stationen, an denen der Zug hielt.
    Endlich kam der merkwürdige Augenblick, daß der Zug auf die große breite Fähre hinaufrollte.
    „Jetzt“, sagte Fräulein Skovsgaard, „gehen wir ins Restaurant und essen zu Mittag – und trinken auch etwas. Du Ärmste, du mußt ja halb verdurstet sein, hast doch alle deine Apfelsinen den Affen geopfert!“
    Ingrid wurde rot.
    „Aber ich kann nicht – ich habe ja…“ Fräulein Skovsgaard schnitt ihr das Wort ab.
    „Ich lade dich natürlich ein. Komm!“
    „Aber das geht doch nicht…“
    „Natürlich geht es. Erstens bin ich doppelt so alt wie du. Zweitens habe ich sehr viel Gastfreundschaft bei deinen Landsleuten erfahren. Da wird es höchste Zeit, daß ich sie irgendwie wieder vergelte. Laß den Koffer stehen, den rührt kein Mensch an. Und nun laß uns hinaufgehen!“
    Sie gingen an Deck, das voller Eisenbahnwagen, Autos und Motorräder stand. Ingrid fielen beinahe die Augen aus dem Kopf vor Staunen. Fräulein Skovsgaard führte sie erst über eine schmale, dann über eine breitere Treppe, und schließlich waren sie auf dem Promenadendeck. Die Luft war seltsam frisch und salzig – Ingrid hob schnuppernd die Nase, sie witterte gegen den Wind wie ein Tier.
    „Du bist Seeluft nicht gewöhnt“, sagte Fräulein Skovsgaard lächelnd.
    „Nein…“ Ingrids Augen schweiften über die große, endlose See. „Nein – ich habe das Meer noch nie gesehen…“
    „Dann wird es höchste Zeit! Aber wir wollen das Essen nicht vergessen, mein Kind.“
    Ingrid war auch noch nie in einer großen Stadt gewesen. Sie war in dem kleinen Dorf aufgewachsen. Das einzige Lokal, das sie gesehen hatte, war das Dorfwirtshaus gewesen. Die einzigen Wasserfahrzeuge, die sie kannte, waren die kleinen, flachen Boote auf dem Binnensee zu Haus.
    Hier stürmten lauter neue Eindrücke auf sie ein. Die Fähre schien ihr das größte Schiff der Welt und die See um sie herum das Weltmeer zu sein. Als sie in den Speisesaal trat, blieb sie stehen und sperrte die Augen weit auf.
    Was für ein Wirtshaus! Viel, viel größer als daheim und obendrein noch an Bord eines Schiffes!
    Sie aßen ein wunderbar duftendes Fleischgericht und als Nachtisch eingemachte Früchte mit Schlagsahne. „Essen hier alle Leute am Alltag Sonntagsessen?“ fragte Ingrid.
    Fräulein Skovsgaard lachte. „Aber nein! Wir leben im allgemeinen auch einfach – obwohl ich zugeben muß, daß wir Dänen gern gut und reichlich essen. Jetzt iß aber, Ingrid, es dauert lange, bis du wieder etwas bekommst.“
    Da merkte Ingrid erst, wie hungrig sie war. Sie ließ sich das gute Essen wohlschmecken und trank gern die Flasche mit Apfelsinensprudel, die vor sie hingestellt wurde.
    Als sie fertig waren, hatten sie erst die halbe Überfahrt mit der Fähre hinter sich.
    „Jetzt gehen wir an Deck“, sagte Fräulein Skovsgaard, „ich muß dir etwas zeigen, das dir Spaß machen wird. Du magst doch Tiere gern.“
    Sie nahm ganz unbefangen ein paar Scheiben Weißbrot vom Tisch und steckte sie in ihre Tasche.
    Große weiße Möwen folgten der Fähre mit lautem Gekreisch. Fräulein Skovsgaard holte ein Stück Brot aus der Tasche, beugte sich weit über die Reling und streckte den Arm aus. Da näherte sich eine Möwe, aber sie hatte noch keinen rechten Mut. Sie besann sich wieder und beschrieb noch einmal einen Bogen über das Schiff; dann schoß sie plötzlich mit einem blitzschnellen Stoß nach unten und schnappte das Brot aus Fräulein Skovsgaards Hand.
    „Ach“, rief Ingrid mit glänzenden Augen, „darf ich mal versuchen?“
    Gleich darauf schnappte eine andere Möwe nach dem Brot aus ihrer Hand – jetzt wieder eine – und noch eine. Ingrid merkte nicht, daß Fräulein Skovsgaard Bleistift und Skizzenblock hervorgeholt hatte und drauflos zeichnete, während ihre Augen unaufhörlich zwischen dem Mädchen und den Möwen hin und her gingen.
    Sie merkte auch nicht, daß die anderen Leute, die auf dem Deck spazierengingen, stehenblieben und wohlwollend lächelten.
    Die kleine Ingrid ahnte nicht, was für ein schönes Bild sie abgab, wie sie dastand, das reine,
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