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Das kalte Schwert

Das kalte Schwert

Titel: Das kalte Schwert
Autoren: Richard Morgan
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die dritte Stimme.
    Ringils Gesicht ist verzerrt. Ein Muskel in seiner Wange zuckt. Er atmet tief ein, wieder aus, und ein frischer Wind scheint über der Ebene der weinenden, kreischenden Seelen zu aufzukommen. Als er spricht, ist seine Stimme immer noch heiser, aber ein Krächzen liegt jetzt darin, ein hässlicher Hauch von Zielstrebigkeit.
    »Wo ist mein Schwert?«
     
    Hjel öffnet den Sumpf mit einem langen, schnarrenden Akkord auf der Mandoline, und der Boden ihnen zu Füßen scheint zu zerfließen, ein Spalt, der sich auftut, weiße Kalksteinpfeiler, die zur Seite weichen, und ein bleicher Pfad abwärts. Hjel lässt es mit eben jener beiläufigen Geste und so unzeremoniell geschehen wie ein Mann, der einen Vorhang zurückzieht, um das Morgenlicht hereinzulassen.
    »Hier entlang«, sagt er und bedeutet Ringil, er solle vorangehen.
    Der Pfad windet sich den Spalt hinab, zu beiden Seiten schlängelt sich Wasser und tröpfelt auf den bleichen Stein, versickert
im Moos entlang der Ritzen und in die Grasklumpen am Fuß des Felsens. In der Luft liegt ein kühler, feuchter Geruch, der jedoch nicht unangenehm ist, und der Boden unter Ringils Füßen ist trocken und knirscht bei jedem Schritt. Er gelangt irgendwohin. Hjel hinter ihm ist ein grimmiger Begleiter, und die Wände des Spalts weichen immer weiter zurück. Ein Zyklus ist zerbrochen, irgendwie, in ihm ebenso wie draußen, und jetzt tritt er aus den Scherben heraus.
    Der Weg endet in der Düsternis am Fuß eines langen, leuchtenden Felsens, der sich links und rechts ins Unendliche erstreckt. Ringil ist bereits aufgefallen, dass auf den letzten paar Metern des Pfads durch die Schlucht in die rissigen Blöcke aus Kalkstein zu beiden Seiten über und über Reihen von Buchstaben eingeritzt sind, aus einem Alphabet, das er nicht lesen kann, dessen Form ihm jedoch irgendwie vertraut ist. Jetzt legt er den Kopf in den Nacken und erkennt, dass die gesamte unendlich weite Oberfläche des Felsens über ihm und zu beiden Seiten endlos mit demselben eckigen Gekritzel bedeckt ist, jeder einzelne Zoll.
    Hjel steht neben ihm, während er hinaufblickt.
    »Das Ikinri ’ska«, sagt er schlicht. »Alles. Bewahrt von den Schöpfern, also von jenen, die es als Erste niederschrieben, für alle, die den Weg hierher finden und nach wie vor den Willen haben zu lernen. Du gehst dort entlang.«
    Er nickt voraus. Der Pfad führt von dem Felsen weg zu einem breiten, kalt wirkenden Bergsee. Eine leichte Brise fährt über die silbrige Oberfläche und durch das Schilf am Ufer, ansonsten wirkt das Wasser jedoch tot. Gil zögert. Die Gegend hier ähnelt sehr einer der Stellen, durch die ihn Seethlaw führte, bevor sich alles zum Schlimmen hin entwickelte. Vergebens sucht er nach einer Möglichkeit, ihn zu überqueren.

    »Wie soll ich das also tun?«
    Hjel zeigt an ihm vorbei aufs Wasser. »Du wolltest dein Schwert. Rufe es!«
    »Es rufen?«
    »Ja.«
    Ringil sieht ihn einen Augenblick lang an, sieht, dass es dem Lumpensammlerprinzen ernst ist. Er zuckt die Achseln.
    »Na gut.«
    Er geht zum Ufer hinab. Winzigen Wellen schwappen auf den Schlamm an seinen Stiefelspitzen. Er starrt verblüfft über den Bergsee hinaus.
    »Rufe es!«, ruft ihm Hjel zu. Er ist nicht aus dem Spalt in dem Felsen herausgetreten. Er steht dort, schlank und dunkel vor dem weiten leuchtenden Feld des eingeritzten Ikinri ’ska.
    Ringil zuckt erneut die Achseln und kommt sich blöd vor. »Rabenfreund.«
    »Lauter!«
    Gil streckt theatralisch die Hände in die Höhe. Erhebt die Stimme über den Bergsee hinweg. »Ich suche den Rabenfreund!«
    Ein Dutzend Meter weit draußen brodelt das Wasser und explodiert dann. Heraus streckt sich eine nasse Hand mit Schwimmhäuten, die das Schwert fest an der Klinge umfasst. Ringil starrt es an, dann sieht er sich nach Hjel um. Der Lumpensammlerprinz winkt.
    »Na, dann los! Du willst es haben? Geh’s dir holen!«
    Er watet ins Wasser und entdeckt, dass er überraschend schnell hüfttief darin steht. Der Schlamm am Grund saugt an seinen Stiefeln, jeder Schritt rührt dickes und rauchiges Braun auf. Als er zum Schwert gelangt, blickt er hinab und sieht eine Akyia unter der Oberfläche liegen, wie eine albtraumhafte Odaliske, die sich auf einem Haremssofa räkelt. Ihre langen, von
Flossen gesäumten Gliedmaßen ringeln sich träge, halten sie an Ort und Stelle, die Brüste treiben voll und üppig auf dem großen Leib mit den geschmeidigen Muskeln. Das riesige Lampretenmaul öffnet und
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