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Das kalte Schwert

Das kalte Schwert

Titel: Das kalte Schwert
Autoren: Richard Morgan
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schließt sich in dem knochenlosen unteren Gesichtsteil und schmeckt den Schlammwirbel, den er erzeugt hat. Er sieht die Reihen von Knochen in der Kehle sich aufrichten und wieder niederlegen. In der verzerrten Knochenstruktur der oberen Gesichtshälfte starren faustgroße Augen leer zu ihm auf, nicht lebendiger als jene einer versunkenen Statue.
    Nach allem, was er durchgemacht hat, ist es wie der Anblick einer alten, geliebten Freundin. Er würde die Kreatur streicheln, wenn er nicht befürchtete, sie würde ihm die Hand am Gelenk abbeißen.
    Stattdessen nimmt er das Schwert mit beiden Händen. Die Akyia lässt die Klinge los und wälzt sich herum, zeigt ihm eine dicke, muskulöse Flanke und sinkt dann wieder herab, windet sich einmal rasch um seine Beine und verschwindet in einem Wirbel aus Flossen und einer Explosion aus Gischt, die ihn völlig durchnässt.
    Triefend watet er ans Ufer zurück, wobei er den Rabenfreund mit beiden Händen umklammert, als hätte er vergessen, wozu er dient.
    Aber er hat es nicht vergessen.
    Und Hjel ist verschwunden.
    Nur das hoch aufragende Gebäude des Ikinri ’ska ist verblieben.

45
    Im Tempel von Afa’marag beugte sich Risgillen über den Jungen und legte ihm beruhigend eine Hand auf die Stirn. Die Panik in seinen Augen schwand bei der Berührung. Sie ging nahe heran und flüsterte ihm etwas ins Ohr: die alten, alten Formeln.
    Sie wusste, er würde sie nicht verstehen. Niemand verstand sie in diesem verfluchten modernen Zeitalter, das sie sich zurückerobern wollten, aber es war das Beste, was sie tun konnte. Die Rituale ehren, das Blut ehren, die lebendige Vergangenheit ehren. Sie kannte keine andere Lebensweise. Sie hoffte, dass zumindest etwas in dem Jungen, irgendein dünner Faden des Erbes, bewahrt über die langen Jahre, seinen Weg zu der alten Bedeutung finden und den Dienst verstehen würde, der ihm zustand, die Ehre, die sie ihm erwies.
    »Blut meines Bluts, Bindung zu mir«, murmelte sie. »Wisse deinen Wert und verleihe uns die Stärke der Vorfahren, gemeinsam bewahrt.«
    Sie ließ die geschärfte Daumenkralle an seinem gesamten Arm entlanggleiten, schlitzte die Arterie von der Ellbogenbeuge bis zum Handgelenk auf. Er stieß einen leisen Laut der Hoffnungslosigkeit aus, als das Blut herausströmte. Sie brachte ihn zum Schweigen und ging zum anderen Arm über. Fand die Arterie, schnitt durch das Fleisch und trennte sie auf.

    »Blut meines Bluts, Bindung zu mir. Wisse deinen Wert und öffne uns jetzt den Weg.«
    Das zweite Blutgefäß gab seinen Inhalt frei. Der Junge rückte leicht auf dem Altar hin und her und wimmerte, während er verblutete, aber sie hielt eine Hand fest auf seinen Brustkorb gedrückt und schenkte ihm ihre Ruhe. Das Blut sammelte sich und schlängelte sich über den abgenutzten Stein, auf dem er lag. Risgillen beobachtete die Muster, die es erzeugte, mit kritischem Blick, verglich sie mit den alten Flecken, die bereits den Stein markierten. Sie sah den Gang hinab zu den versammelten Glirsht-Statuen, griff zwischen sie, griff in Winkeln hinter sie, die das Auge nicht erkennen konnte. Sie runzelte die Stirn.
    »Nun?«
    Atalmire, von der oberen Galerie, flankiert von zwei Männern seiner Ehrengarde und diesem idiotischen Priester. Wie die meisten Sturmrufer war er gelinde gesagt ungeduldig. Sie vermutete, dass es etwas mit dem Bemeistern der Sonnenkrallen, den glitzernden, raschen Elementarkräften zu tun hatte, die man beherrschen musste. So etwas machte einen ungeduldig.
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Etwas stimmt nicht«, rief sie zu ihnen hinauf.
    »Nun – was?«
    »Wenn ich das wüsste, wäre es kein Problem.« Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem sterbenden Jungen zu und lächelte ihn geistesabwesend an. Streichelte ihm das Gesicht. »Da blockiert etwas den Fluss der Macht. Das Opfer wird nicht erkannt.«
    Atalmire versetzte dem Geländer enttäuscht einen Tritt. »Sind es wieder diese verfluchten Ahn Foi, die uns zurückhalten?«
    »Das war vor vielen tausend Jahren, Atalmire. Ich glaube, es ist fair zu sagen, dass sie ihre Lektion damals gelernt haben.
Auf jeden Fall sind sie es nicht, es schmeckt nicht nach ihnen. Das ist etwas …«
    … anderes.
    Wie ein Geflüster in der staubigen Düsternis.
    Ihr Blick flackerte zurück zu den Glirsht-Statuen und dem Raum, in dem sie standen. Sie runzelte die Stirn. Ein kleiner Wind war aus dem Nichts aufgekommen, der Staub und Schutt einen Augenblick lang in einer Spirale umherwirbelte und
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