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Das Hotel

Das Hotel

Titel: Das Hotel
Autoren: Heyne
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Wald war es ihr unmöglich, davonzurennen. Cam würde einfach so weitermachen, bis …
    » Nimm alles um dich herum wahr, nicht nur das, was vor dir ist.«
    Das war Grandmas Stimme. Der Gedanke war so stark, dass Kelly glaubte, ihre Großmutter stünde neben ihr und flüsterte ihr die Worte ins Ohr.
    » Es ist nicht nötig, runterzuschauen. Die Augen immer nach vorn gerichtet, aber nur die Augen, nicht deine gesamte Konzentration.«
    Kelly zwang sich, alles aufzunehmen, nicht nur den Boden zu ihren Füßen. Dann erinnerte sie sich an den anderen Trick, den Grandma ihr beigebracht hatte. Den, das gesamte Blickfeld zu nutzen.
    Auf für Kelly unerklärliche Weise wurde das Laufen einfacher. Jeder Schritt, den sie tat, saß, und es gab keine Unsicherheiten mehr. Sie horchte nach hinten und wusste, dass sie Cam abhängte.
    Kellys Laufschritte wurden größer. Sie überließ ihren Beinen die Arbeit, und obwohl es stärker bergauf ging, wurde sie nicht langsamer. Doch außer Cam, der durch den Wald stolperte, hörte sie noch etwas anderes. Etwas, das sie kannte.
    Einen Wasserfall.
    Sie öffnete ihre Ohren, nahm die Richtung wahr, aus der das Geräusch zu ihr vordrang, und lief darauf zu. Nach zwei Dutzend Schritten befand sie sich auf einer Lichtung, und Kelly hielt abrupt inne, als sie merkte, dass sie auf einem Klippenvorsprung stand. Sie blickte nach unten und sah den Wasserfall in der Ferne, und das Spritzwasser formte zusammen mit dem Sonnenlicht einen doppelten Regenbogen. Sie neigte den Kopf weiter nach unten und starrte auf die Felsen zwölf oder fünfzehn Meter unter ihr.
    Kelly stand wie auf einem Sprungturm. Ihre Knie wurden weich. Ihr Mund wurde trocken. Sie hasste Höhen.
    Doch Grandma kam ihr erneut zu Hilfe.
    » Wem, glaubst du, solltest du mehr trauen, deinen Augen oder dem festen Boden unter deinen Füßen?«
    » Dem Boden. Ich vertraue dem Boden.«
    Kelly entdeckte ungefähr einen Meter unter ihr ein kleines Felsenriff. Zwar schmal, aber es reichte, um sich daraufzustellen. Es sah solide genug aus, ihr Gewicht zu tragen.
    Sie hörte Cam heraneilen und drehte sich um.
    » Du kannst ganz schön schnell rennen, Kelly«, sagte er atemlos.
    Kelly machte einen kleinen Schritt zurück und spürte, wie ihre Hacken am Rand des Abgrunds standen.
    » Jetzt allerdings steckst du in der Falle.«
    Da täuschst du dich.
    » Ich glaube, diesmal kann ich die Schreie endlich verstummen lassen.«
    Cam ging langsam und lässig auf sie zu und durchschnitt mit dem Skalpell die Luft. Kelly wartete, bis er sie fast erreicht hatte.
    Ich vertraue dem Boden, Grandma.
    Sie trat einen Schritt nach hinten.
    Die Handschellen waren aus dickem braunen Leder. Das getrocknete Blut, das sie bedeckte, hatte sie spröde werden lassen. Maria wehrte sich, während Eleanor sie ihr anlegte. Sie trat und schlug wild um sich, während ihr Harry fröhlich kichernd und sabbernd einen Schlag nach dem anderen mit dem Viehtreiber verpasste. Schließlich fiel sie auf die Knie, schwach und am ganzen Leib zitternd, unfähig, weiterhin Widerstand zu leisten.
    Eleanor zog den Riegel am Geländer beiseite und öffnete die Tür.
    » Ein lebhaftes kleines Ding«, meinte Eleanor, und ihre Augen glänzten. » Aber ich bin mir sicher, dass dich der Sturz entspannen wird.«
    Eleanor schubste sie zum Geländer. Maria spreizte die Beine und schnappte nach Eleanors Fersen, doch die alte Frau war zu stark und ließ nicht von Maria ab.
    Noch dreißig Zentimeter.
    Fünfzehn.
    Ich werde fallen. Ich werde fallen, und es wird mir die Arme aus den Schultern reißen.
    Maria schloss die Augen und biss die Zähne zusammen, um sich gegen die bevorstehenden Schmerzen zu wappnen.
    Dann hörte sie ein Krachen. Ein Krachen, das das ganze Haus erzittern ließ.
    » Geh runter und sieh nach!«, befahl Eleanor ihrem Sohn.
    Er stapfte davon, und in dem Sekundenbruchteil, den Eleanor abgelenkt war, schnappte sich Maria die Kette und wickelte sie um den Hals der Hexe.
    Eleanor stolperte, und Maria eilte zur Flinte, die an die Wand gelehnt war.
    Die alte Frau erholte sich rasch, griff die Kette und riss daran. Maria kam kurz vor ihrem Ziel zu einem jähen Halt. Sie streckte sich, trat mit dem Fuß nach der Flinte und warf sie um.
    Dann zog Eleanor sie zurück zum Geländer, gleich einem Fischer, der sein Netz einholte. Maria stemmte sich mit ihrem ganzen Körper dagegen, doch sie würde dieses Tauziehen nie und nimmer gewinnen. Eleanor war zu stark und zu schwer.
    Zentimeter um Zentimeter
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