Das Herz der Puppe
»Ja, putzen, beschmutzen«, kicherte sie.
Die Mutter schüttelte nur den Kopf.
Im Bad wurde Nina so schnell müde, dass sie ihre Zähne kaum zu Ende putzen konnte. Sie war froh, als nach drei Minuten die Zahnputzsanduhr durchgelaufen war. Sie schlurfte in ihr Zimmer zurück, schlüpfte unter die Decke, umarmte Widu und schlief auf der Stelle ein. Die Mutter streckte noch einmal kurz den Kopf herein, löschte das Licht und schloss die Tür.
»Gut Theater gespielt, mein Mädchen – und jetzt erzähl ich dir vom seltsamen Moritz«, sagte Widu und streichelte Nina übers gesicht. Aber Nina hörte sie nicht mehr. Sie schnarchte schon und schlief so tief wie seit Langem nicht mehr.
In dieser Nacht lag Widu lange wach. Sie war ganz aufgeregt und aufgekratzt. Aber was war es, das sie in der Nähe dieses Mädchens so aufregt sein ließ? Warum hatte sie sich so große Sorgen gemacht, sie könnte das Mädchen für immer verloren haben? Warum hatte sie das Mädchen so vermisst, obwohl sie doch beim Puppenwächter Moritz alles hatte, was sie brauchte? Moritz, der alte Mann, der immer noch unverdorben wie ein Kind war und die Puppen mehr liebte als seine Mitmenschen. Da waren Puppen aus aller Herren Länder, und manche kamen, wenn man ihren geschichten glauben wollte, sogar von fernen Sternen und Planeten. Sie hätte auf ewig mit Moritz und ihresgleichen leben können und hätte sich mit Sicherheit keine Sekunde gelangweilt – und doch hatte sie beim leisesten geräusch zur Tür geschaut und gehofft, gleich würde Nina strahlend und vor Freude hüpfend hereinkommen.
Jeden Morgen hatte der alte Moritz ein Spiel mit ihnen gespielt. Er hatte jede einzelne Puppe gefragt: »Wohin fährt deine Fantasie heute?« Eine Puppe hatte gerufen: »Nach Honolulu!« Eine andere: »Zum Mond!« Eine dritte vielleicht: »Zum Konditor!«, und wieder eine andere: »Nach Afrika!« Wenn er Widu fragte, antwortete sie jedes Mal: »Zu Nina!« – Warum?
Lag es an diesem besonders sympathischen Mädchen allein, oder lag es auch an ihr? Wünschte sie sich etwas, was sich noch keine Puppe zu wünschen gewagt hatte? Wünschte sie sich etwa – ein Herz? Um Himmels willen, was dachte sie da bloß? Widu lächelte über ihre eigenen gedanken. Eine Puppe mit Herz? Nein, das kam überhaupt nicht in Frage! Dann würde sie ja älter werden müssen und am Ende noch sterben.
Nein, ein Herz war Widu zu gefährlich. Aber vielleicht konnte eine Puppe ja auch ohne Herz fühlen. Ach, das wäre göttlich, dachte Widu, und bald darauf schlief sie lächelnd ein.
Herr Moritz, der Wächter
der verlorenen Puppen
»Du hast drei Nächte kaum geschlafen aus Sorge um mich, und ich habe drei Tage und drei Nächte kein Auge zugemacht, weil ich dich so vermisst habe. Trotzdem hatte ich bei den Puppen viel Spaß. So viele geschichten hab ich seit zwanzig Jahren nicht mehr gehört. Die anderen Puppen stürzten sich geradezu auf mich und wollten mir ihre geschichten erzählen, und eine geschichte war seltsamer als die andere. Ich habe die meisten schon wieder vergessen, aber nicht die geschichte des alten Herrn Moritz. Die haben mir die Puppen nämlich erzählt, die ihn seit einer Ewigkeit begleiten. Willst du sie hören?«, fragte Widu.
»O ja«, sagte Nina.
Es war am Sonntagnachmittag, und Ninas Eltern waren beim Tennisspielen. Danach wollten sie mit Freunden essen gehen. Tante Olga war bei Nina, aber sie saß vor dem Fernseher. Also spielte Zeit keine Rolle.
»Der alte Herr Moritz hatte als Kind viele Puppen, die er sehr liebte, aber plötzlich sollte er nicht mehr mit ihnen spielen. Dazu sei er jetzt zu groß. So große Jungen, hieß es, bräuchten keine Puppen mehr, höchstens später mal eine Braut. Von da an versteckte sich der kleine Moritz, wann immer er konnte, in einer kleinen Kammer im Haus seiner Eltern und spielte trotzdem mit seinen Puppen.
Je älter er wurde, desto mehr betrachteten die Menschen Moritz als Sonderling, aber da er fleißig und höflich war, fand er Arbeit bei der Stadt und lebte weiter bei seinen Eltern und nach deren Tod allein, das heißt: mit seinen mehr als dreißig Puppen.
Sein Leben verging wie das Spiel der Kinder im Flug, aber als er Rentner wurde, freute er sich, denn nun hatte er endlich wieder genug Zeit für seine Puppen. Zwei Monate nach seiner Pensionierung las er in der Zeitung, dass die Stadt das Fundbüro schließen wolle, weil das geld für einen Beamten fehle und sich der Aufwand nicht mehr lohne, weil kaum noch jemand
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