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Das Herz der Puppe

Das Herz der Puppe

Titel: Das Herz der Puppe
Autoren: Carl Hanser Verlag
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nach etwas Verlorenem frage.
    Das war die gelegenheit für Herrn Moritz. Er ging zum Bürgermeister und schlug ihm vor, das Fundbüro kostenlos zu führen. Nicht einmal Miete müsse die Stadt bezahlen, denn er biete sein Haus als Fundbüro an. Der Bürgermeister staunte. Und er staunte noch mehr, als Herr Moritz zu ihm sagte: ›Mit dem Fundbüro erzieht man die Menschen dazu, gefundenes zurückzubringen und nicht in die eigene Tasche zu stecken. Wenn man das Fundbüro abschafft, behalten die Leute, was sie finden, und bald werden wir mehr Diebe unter uns haben als je zuvor.‹
    Später, bei der feierlichen Eröffnung, scherzte der Bürgermeister: ›Mir fehlen die richtigen Worte, um Ihnen, Herr Moritz, zu danken, aber auf der Suche danach komme ich bestimmt demnächst bei Ihnen vorbei. Vielleicht findet sie jemand und gibt sie bei Ihnen ab.‹
    So kam es, dass Herr Moritz sein Haus in ein Fundbüro verwandelte. Seine Scheune und die garage, die er nie gebraucht hatte, boten größeren Fundsachen wie Fahrrädern, Kinderwagen, Tretrollern und sogar zwei Schubkarren, einem Laufstall und einem Rollstuhl ein neues Zuhause.
    Die Nachricht von der Neueröffnung des Fundbüros löste in der Stadt eine fieberhafte Suche nach verlorenen Dingen aus. Die örtliche Zeitung berichtete, man habe in einer Woche so viel gefunden wie zuvor in zehn Jahren nicht. Manche waren dabei so eifrig, dass sie vor den Häusern abgestellte Fahrräder und Kinderwagen für gefunden erklärten und sich vom Protest der Besitzer nicht beirren ließen: ›Gehen Sie zum alten Moritz, wenn Sie wirklich der Besitzer sind, dann bekommen Sie Ihr Fahrrad zurück.‹
    Manche übereifrige Finder brachten gar Kinder und alte Leute ins Fundbüro und erklärten stolz, die hätten sie gefunden. Bei solchen Findern bedankte sich Herr Moritz höflich, dann beruhigte er die gefundenen Menschen mit Bonbons und Schokolade und telefonierte mit der Polizei: ›Hallo, hier Moritz, bitte kommen! Ich habe hier ein paar Herrschaften, die ihren Weg verloren haben. Das ist ein Fall für Sie.‹
    Die Polizisten kamen schnell, denn sie kannten Herrn Moritz gut und schätzten ihn sehr.
    Herr Moritz erzählte oft und gern von einem Kind, das kurz vor Weihnachten von einem Radioreporter gefragt worden war, was es sich denn wünsche. ›Verloren zu gehen, damit ich bei Herrn Moritz abgegeben werde und Schokolade bekomme‹, hatte das Kind gesagt.
    Manch einer kam auch zu Herrn Moritz und sagte, er habe einen Witz gefunden. Dann hörte der alte Herr geduldig zu, und wenn ihm der Witz gefiel, sagte er: ›Ich nehme ihn.‹ Wenn der Witz aber schlecht oder geschmacklos war, sagte der alte Herr vornehm: ›Ich glaube, den dürfen Sie für sich behalten.‹
    So ging es eine ganze Weile, aber irgendwann brachten die Leute nur noch Dinge, die sie tatsächlich gefunden hatten. Das Büro war das einzige Amt der Stadt, das vierundzwanzig Stunden am Tag geöffnet hatte. Wollte Herr Moritz einkaufen gehen, hing ein Schild an der Tür, darauf stand:
     
    Ich bin kurz unterwegs, kommen Sie bitte später wieder, oder füllen Sie den Zettel aus, den Sie im Kasten neben dem Eingang finden, und legen ihn zu Ihrem Fund!
     
    Der Zettel war klein, denn man sollte nur Ort und Zeit des Fundes und darunter den Namen und die Adresse des Finders notieren.
    Herr Moritz schien sich über jeden Fund zu freuen und bedankte sich bei jedem Finder. Es gab eine Tasse Kaffee für die Erwachsenen und Schokolade oder Murmeln für die Kinder. Die Zahl der Anfragen nach verlorenen Sachen stieg stetig, und die Leute lobten Herrn Moritz über den grünen Klee. Er war freundlich und hilfsbereit, und wenn man ihm beschrieb, was man verloren hatte, blätterte er in seinem Heft, in das er jede noch so kleine Fundsache sorgfältig eintrug, schüttelte bedauernd den Kopf oder ging, wenn man glück hatte, lächelnd in einen der Lagerräume und kehrte bald mit dem gesuchten zurück.
    Nur bei Puppen war er eigen. Man wurde das gefühl nicht los, dass der alte Herr am liebsten keine einzige der gefundenen Puppen zurückgegeben hätte. Peinlich genau wollte er beschrieben haben, wie sie aussahen. Zögernd, ja unwillig ging er dann in das für sie reservierte Zimmer, kam zurück und verkündete nicht selten, die Puppe sei zwar da, aber die Herrschaften, die sich danach erkundigten, seien leider nicht die Richtigen, nur die Besitzerin oder der Besitzer höchstpersönlich dürfe die Puppe abholen. Da konnten die Leute toben, wie sie
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