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Das Herz der Hoelle

Titel: Das Herz der Hoelle
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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abfallende Treppe. Mehrere Hundert Stufen, fast senkrecht. Ich hielt mich am Geländer fest. Rinnsale glänzten an den Wänden, an der Decke funkelten Wasserlachen, die Feuchtigkeit war überall, durchdringend, die Luft war wie ein mit Wasser durchtränkter Schwamm.
       Unten ein weiteres Schild »Rundgang«. Die Neonröhren, die in Mannshöhe befestigt waren, erinnerten an einen U-Bahn-Schacht. Nach hundert Metern erspähte ich linker Hand die Tür. Ich probierte den Schlüssel aus und tastete nach dem Lichtschalter. Eine Reihe von Glühbirnen, die durch ein Kabel miteinander verbunden waren, leuchtete matt auf. Es wurde immer düsterer: Der schmale Stollen war schwarz und leicht abschüssig. Ich schob meine Befürchtungen beiseite und ging weiter, ohne richtig zu sehen, wohin ich meine Füße setzte. Meine Schultern streiften die Glühbirnen und brachten sie zum Schwingen.
       Plötzlich bog der Gang rechtwinklig ab: der senkrechte Schacht. Ich schaltete meine Lampe an und entdeckte die Eisensprossen an der Wand gegenüber. Mit dem Absatz prüfte ich die ersten Sprossen, dann schaltete ich meine Taschenlampe aus, befestigte sie am Schulterriemen und stieg nach unten.
       Nach hundert Tritten berührte ich festen Boden. Ich sah nichts, aber die frische Luft deutete darauf hin, dass ich mich in einem großen Raum befand. Der erste Saal. Ich nahm meine Taschenlampe und schaltete sie wieder an. Ich stand in einem schmalen Gang. Zu meinen Füßen eine riesige Höhle. Ein kreisförmiger Kessel, der an ein römisches Amphitheater erinnerte.
       Die Falten im Fels beschrieben zahllose Ornamente. Felssporne und -zacken, die von der Decke herabhingen oder vom Boden emporragten und Fransen, Pfeiler und Spitzen bildeten. Absurderweise fiel mir in diesem Moment eine alte Lektion aus Sèze ein: »Stalaktiten: Kaikabscheidungen, die sich durch Verdunstung von Wasser an der Decke einer Höhle bilden« ; »Stalagmiten: Abscheidungen, die sich säulenförmig vom Boden erheben …«
       Ich machte ein paar Schritte nach links, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, und hielt die Taschenlampe vor mich, ohne sie zu neigen, um nicht in den Abgrund zu leuchten.
       Ein weiterer Stollen. Ich ging gebückt und manchmal fast in der Hocke weiter. Geröll knirschte unter meinen Sohlen. Ich knickte mehrfach mit dem Fuß um und stolperte in Pfützen. Mein Sichtfeld beschränkte sich auf den Bereich, den die Taschenlampe ausleuchtete. Das Geräusch von rieselndem Wasser bestätigte mir, dass ich auf dem richtigen Weg war – der Führer hatte von einem Siphon gesprochen …
       Endlich war der Sturzbach direkt vor mir. Ich zögerte einen Moment, befestigte meine Lampe wieder an meiner Schulter, verkeilte meine Füße an den Wänden des schmalen Schachts, unmittelbar oberhalb des Wassers. Erneuter Abstieg. Das Wasser war überall. Es war das Blut der Grotte. Ihre Gänge waren ihre Venen und Arterien. Und ich befand mich im Zentrum dieses Blutkreislaufs.
       Endlich eine ebene Fläche. Im Schein der Taschenlampe tauchten schwarze Felsen auf. Blöcke lagen verstreut auf dem Boden herum, Stalaktiten ragten empor: Es gab keinen Ausgang. Noch einige Schritte. Plötzlich ein Schlund. Der zweite Schacht, von dem der Wärter gesprochen hatte. Aber diesmal keine Sprossen, keine Griffe. Ohne Ausrüstung konnte man nicht hinabsteigen.
       In diesem Moment nahm ich ein Schimmern wahr. Ein Karabinerhaken. Ich leuchtete mit der Taschenlampe hin und entdeckte Gurtzeug, das an einem Strick hing. Die Bestätigung. Luc hatte die Ausrüstung für mich vorbereitet. Er war jetzt ganz in der Nähe und erwartete mich für unsere letzte Begegnung.
       Ich legte das Gurtzeug an, wobei ich mich in meinen feuchten Kleidern verfing. Ich hatte keinerlei Erfahrung im Bergsteigen, aber auf dem Grund meiner Angst fand ich ein Quäntchen praktischen Verstand. Ich schirrte mich an. Zunächst geschah nichts. Ich hing in der Luft und drehte mich um mich selbst, mit beiden Händen den Strick fest umklammernd. Dann begann das Seil zu gleiten und trug mich langsam in die Dunkelheit. Ich dachte nicht mehr nach. Mit geschlossenen Augen schwebte ich nach unten. Ich war dabei, mit dem Körper in Lucs Hölle einzutauchen.
       Ich fand wieder festen Boden unter den Füßen, streifte das Gurtzeug ab und leuchtete die Umgebung mit der Taschenlampe ab. Der zweite Saal. Der gleiche Bogen, die gleichen Stalaktiten. Aber der Lichthof um meine Lampe schimmerte
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