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Das Haus des Daedalus

Titel: Das Haus des Daedalus
Autoren: Kai Meyer
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irgendeinem dieser kleinen Hotels festzustellen, daß die Akkus seiner Geräte leer waren. Er hatte nicht viel Geld, gerade genug, um die eine oder andere Nacht unter einem Dach zu verbringen, und er hatte einen ganzen Tag mit sich gekämpft, ehe er sich dazu durchrang, in einem Geschäft neue Akkus, ein Ladegerät und ein Netzkabel zu stehlen. Das war gestern abend gewesen. Und heute, an diesem Nachmittag, hatte er endlich das vierte Band in den Kassettenschacht geschoben. Die Hälfte aller Aufnahmen hatte er somit geschafft, und er ahnte, daß die Dinge von diesem Punkt an noch schlimmer werden würden, viel schlimmer.
    Santino fühlte sich wie ein Alkoholiker, der weiß, daß er die Flasche nicht berühren sollte, um keinen Preis der Welt, aber es am Ende trotzdem tut. Er hätte das Abspielgerät mit dem integrierten Monitor wegwerfen, die Bänder vernichten sollen. Einfach nicht hinschauen, nicht zuhören. Sich blind und taub stellen. Doch das konnte er nicht.
    Er schuldete es den anderen, mehr über ihr Schicksal zu erfahren, daran teilzuhaben, als wäre er selbst ein Mitglied dieser unseligen Expedition in den Abgrund gewesen. Immerhin war er es gewesen, der sie auf die Idee gebracht hatte. Er hatte ihnen die Ausrüstung besorgt und darauf geachtet, daß der Abt nichts von ihren Plänen erfuhr. Santino war von Anfang an der Rädelsführer gewesen.
    Und doch war schließlich er es gewesen, der am Eingang zurückgeblieben war. Er hatte ein lahmes rechtes Bein, schon von Geburt an, und dies hatte schließlich den Ausschlag gegeben, den drei anderen den Vortritt zu lassen. Er hätte niemals mit ihnen mithalten können. Und sie würden ohnehin bald wieder bei ihm sein, um ihn an ihren Erlebnissen teilhaben zu lassen.
    Doch dann war nur einer aus der Tiefe zurückgekehrt, Bruder Remeo, und er war ein paar Augenblicke später in Santinos Armen gestorben. Remeo hatte sich seinen verbrannten linken Unterarm vor den Körper gebunden -ein blanker, schwarzer Knochen, wie abgeschabt; daran hatte er die Tasche mit den sechs Videobändern befestigt. Er hatte die Kassetten mit letzter Kraft ans Tageslicht gebracht, mit einer Willensstärke, als hinge sein Leben davon ab. Und sterbend hatte er Santino das Versprechen abgenommen, sich der Wahrheit auszusetzen … und dann, vielleicht, die Welt über alles zu informieren.
    Santino wollte die Bänder nicht abspielen, wollte die Bilder nicht sehen. Aber er mußte es tun. Jetzt, sofort. Solange noch Zeit dazu blieb.
    Remeo, dachte er, warum wir? Warum ich?
    Der Monitor zeigte die Stufen einer Wendeltreppe, etwa zehn Meter breit und aus solidem Stein. Drei Männer stiegen sie hinab, mittlerweile drei komplette Videobänder lang. Einer von ihnen, Remeo, trug die Kamera mit dem eingebauten Scheinwerfer auf seiner Schulter. Der Kapuziner hatte keine Erfahrung mit technischen Dingen, doch nach all den Stunden auf der endlosen Treppe in die Tiefe hatte er den Bogen allmählich raus. Das Bild war noch immer verwackelt und zeitweilig unscharf, aber es war dennoch weit besser als zu Anfang, als die Umgebung eher zu erahnen als zu sehen war.
    Die beiden anderen Mönche waren Bruder Lorin und Bruder Pascale. Remeo war nur selten im Bild, nur dann, wenn er die Kamera kurzzeitig an einen der anderen abgab oder sie auf dem hohen Steingeländer der Treppe ablegte. Doch die meiste Zeit über hielt er sie wacker auf der Schulter, sprach gelegentlich ins Mikrofon und filmte seine beiden Ordensbrüder, während sie Stufe um Stufe um Stufe in den Abgrund stiegen.
    Zwölf Stunden, bisher. Und noch immer nahm die Wendeltreppe kein Ende. Hätte Santino Remeo nicht vorbehaltlos vertraut, so hätte er angenommen, die drei Männer wären immer wieder dasselbe Stück hinabgestiegen, vielleicht aus Furcht, noch weiter in die Tiefe vorzudringen. Aber er kannte Remeo, und deshalb wußte er, daß die Länge der Treppe real war.
    Zwölf Stunden Abstieg auf einer einzigen titanischen Treppe. Und auch jetzt, zu Beginn des vierten Videobandes, änderte sich nichts daran. Jenseits des Geländers, bauchhohen Säulen aus behauenem Stein, gab es nichts als Schwärze. Mehr als einmal hatten die drei Mönche Leuchtkugeln in die Finsternis geschossen, um dann doch nur enttäuscht zusehen zu müssen, wie die Lichtbälle irgendwo in der Ferne in die Tiefe stürzten und verglühten. In keiner Richtung trafen die Geschosse auf Widerstand, nirgends war auch nur der Ansatz einer Wand, einer Struktur zu erkennen. Nur Leere, nur
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