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Das Haus des Daedalus

Titel: Das Haus des Daedalus
Autoren: Kai Meyer
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»Okay«, sagte sie. »Ich werde ein paar Leute anrufen müssen.«
    »Versprochen?«
    »Ja. Versprochen.«
    Als sie durch den Folienvorhang traten und über das Geländer hinab in die Tiefe blickten, stand ein schwarzgekleideter Priester neben Jupiters Koffer und musterte ihn von allen Seiten.
    »Zurück«, zischte Coralina und schob Jupiter nach hinten, wo der Priester ihn nicht sehen konnte. Sie selbst aber drückte sich an ihm vorbei, schenkte ihm den Schatten eines Lächelns und stieg hastig die Leiter hinunter.
    Kurz darauf hörte Jupiter, wie sie dem Geistlichen alles erzählte.
    Auf einem Klingelschild an einem Haus nahe des Palazzo Farnese steht der Schriftzug Residenza. Wer den Knopf betätigt, blankpoliert nach all den Jahrzehnten, hört nach einigen Augenblicken das Signal des Türöffners. Mit einem altehrwürdigen Aufzug aus schmiedeeisernem Gitterwerk gelangt man hinauf in den vierten Stock, wo ein grauhaariger alter Mann in einer Pförtnerloge wartet, die schon zu Zeiten des Duce hier stand. Das Holz ist matt und rissig, und der Alte mürrisch und wortkarg. Zimmer sind hier nicht teuer, und wer nach einem bestimmten Gast oder nur nach einer Auskunft fragt, erhält mit Sicherheit keine Antwort.
    In einem der Räume dieser Pension, hoch oben über dem Gassenlabyrinth der Altstadt, saß Santino und starrte auf den Schirm eines tragbaren Videomonitors, nicht viel größer als die abgegriffene Bibel, die auf seinem Nachttisch lag.
    Santino weinte.
    Die Männer auf dem Videoband waren tot. Er hatte jeden einzelnen von ihnen gekannt. Sie waren seine Freunde gewesen. Seine Brüder.
    Kapuzinermönche wie er selbst.
    Santino weinte um das, was ihnen widerfahren war, aber er weinte auch um sich selbst, um das Schicksal, das Gott ihm in seiner Allmacht angedeihen ließ.
    Santino hatte Angst wie noch nie zuvor in seinem Leben. Er wußte, daß sie ihm folgten, wußte, daß sie ihn auch hier, in dieser Pension, aufspüren würden. Bald schon, vielleicht noch heute.
    Er hatte alles getan, um seine Spur zu verwischen, aber er war nur ein Mönch, kein Krimineller, und er wußte nicht, wie man sich von einem Tag zum anderen in Luft auflöste. Sein Verstand riet ihm, die Stadt zu verlassen, fortzugehen aus Rom, hinaus in die Weite der Campagna, nach Süden, hinunter bis ans Meer und noch weiter. Vielleicht würde er einen Unterschlupf in einer Mission finden, irgendwo in Nordafrika.
    Aber er wußte auch, daß das eine Illusion war. An jedem Ort, der ihm offenstand, würden sie ihn finden. Er war zu lange Kapuziner, um sich irgendwo anders als unter einem Dach Gottes zu verstecken. Die Pensionen und billigen Hotels, in denen er sich nun bereits seit Tagen verkroch, jeden Tag in einem anderen schmutzigen Zimmer, kamen seiner Vorstellung der Verdammnis ungemein nahe. Ihm war klar, daß er dieses Versteckspiel nicht mehr lange durchhalten würde. Bald würde er den Schutz und den Segen der Kirche suchen, und dann würden sie ihn fassen.
    Er konnte spüren, daß seine Verfolger überall waren: die Schritte, die draußen über den Korridor gingen und vor seiner Tür unmerklich langsamer wurden; die Geräusche aus den Zimmern über ihm, das beständige Auf-und Abgehen, das zu ihm herab drang und an seinen Nerven zerrte. Immer wieder auf und ab, auf und ab.
    Er wußte nicht mehr, ob er sich all das nur einbildete oder ob die Laute und die Schritte Realität waren. Doch er fühlte, daß er beobachtet wurde, fühlte, wie sich der Kreis um ihn schloß, wie sie näher kamen und näher.
    Er mußte die Bänder bis zum Ende ansehen, ehe er seinen Gegnern ins Netz ging. Alle sechs Videos, bis zur letzten Minute. Er mußte die ganze Wahrheit erfahren, das große Geheimnis, für das seine Brüder ihr Leben gelassen hatten, blutend und schreiend, an einem Ort ohne Gott und seinen gnädigen Beistand. Er mußte endlich alles erfahren.
    In den vergangenen Tagen, seit dem Beginn seiner Flucht, hatte er die drei ersten Bänder angeschaut, jeweils mehrere Stunden lang, immer wieder die gleichen Bilder, die gleichen Stimmen, die gleichen Laute. Das Zuschauen machte müde und benommen, und nur die Furcht der Männer auf den Videos hielt seine Sinne wach. Er wußte, wie berechtigt ihre Angst war. Er kannte den Ausgang ihrer Odyssee in die Tiefe.
    Es war nicht einfach, die Aufzeichnungen längere Zeit am Stück zu betrachten. Immer wieder hatte er sein Versteck verlassen müssen, war ziellos durch die Straßen und Gassen geirrt, um schließlich in
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