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Das Haus des Daedalus

Titel: Das Haus des Daedalus
Autoren: Kai Meyer
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nur ahnten, daß er abermals auf und davon war.
    Mit einem Ruck entriegelte er das Fenster, und nur Herzschläge später war er fort.

KAPITEL 2

Der Kerkermeister
    Eine Madonnenfigur zierte das Haus der Shuvani. Davor kniete eine Gestalt, das schwarze Kopftuch tief ins Gesicht gezogen. Die Perlen eines Rosenkranzes glitten durch zitternde Finger, dürr und knochig. Aus dem Schatten unter dem Tuch war leises Flüstern zu hören.
    Über der Nische, in der die Madonna stand, war eine kleine Tafel angebracht. Sie verriet, daß die Gottesmutter 1954 zum zehnten Jahrestag der Befreiung vom Faschismus gestiftet worden war. Darunter, am Boden, ganz nah bei den Knien der vermummten Gestalt, standen zwei Schälchen, eines mit klarem Wasser, das andere mit Katzenfutter. Ein räudiger Straßenkater, fett von Ratten und Abfall, hatte die Schnauze tief in die zweite Schale gesteckt und fraß mit schmatzenden Lauten, ohne der Betenden Beachtung zu schenken.
    Jupiter nahm das Bild in sich auf wie alle anderen Eindrücke der Straße … als etwas, das wunderbar oder seltsam oder beängstigend hätte sein können, hätte es denn jemand auf eine Leinwand gebannt. So aber, als Teil der Wirklichkeit, war es nur von kurzer Dauer, und er vergaß es noch im selben Moment, als Coralina die Tür des Ladenlokals öffnete.
    Fünf Minuten später, nach einer herzlichen Begrüßung durch Coralinas Großmutter, saßen sie oben im engen Dachgarten des Hauses um einen Tisch, auf dem Rotwein und Käse standen.
    Die Shuvani war eine große Frau, mit schwerem Leib und breiten, starken Schultern. Ihr Haar war noch immer pechschwarz wie das ihrer Enkelin, wenn auch kürzer und am Hinterkopf zu einem Knoten hochgesteckt. Dutzende Ketten und Reife klimperten an ihrem Hals und ihren Handgelenken. Jupiter wußte nicht genau, wie alt sie war, aber er schätzte sie auf Ende Sechzig. Sie war schon immer schwer zu durchschauen, sogar für ihre Enkelin, die seit Jahren unter einem Dach mit ihr lebte. Nicht einmal Coralina kannte ihren vollständigen Namen. Sie war einfach nur die Shuvani, ein Wort, das in der Sprache der Roma soviel bedeutet wie Hexe oder Zauberin.
    »Mein Junge«, war das erste, was sie sagte, als sie alle am Tisch Platz genommen hatten, »ich bin so froh, daß du hier bist!«
    »Gerade noch rechtzeitig, wie mir scheint.« Jupiter hatte den festen Vorsatz, sich nicht von ihr einwickeln zu lassen. Er gab sich Mühe, ihre mütterliche Freundlichkeit einfach fortzublinzeln.
    Die Shuvani wechselte einen kurzen Blick mit Coralina, die rasch und beschämt zu Boden schaute. Die alte Frau erkannte, was geschehen war, und sie stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ach, Kinder, ich hätte es mir denken können.« Damit verfiel sie in brütendes Schweigen, nur unterbrochen von einem leisen Schmatzen, als sie an ihrem Weinglas nippte.
    »Was hast du erwartet?« fragte Jupiter. »Daß ich euch bei diesem Wahnsinn unterstütze? Das kann nicht dein Ernst sein.«
    Die Shuvani lächelte listig. »Den Versuch war es wert, nicht wahr?«
    »Wie meinst du das?«
    »Was siehst du vor dir, wenn du in dich gehst, mein Junge?«
    »Wenn ich … in mich gehe?« »Wenn du die Augen schließt. Na, los, mach schon! Schließ die Augen, und beschreib mir das allererste, das du siehst.«
    Widerwillig gehorchte er, riß die Augen aber sogleich wieder auf, ein wenig erschrocken, und schüttelte den Kopf. »Komm schon, was soll das? Ich …«
    Sie unterbrach ihn sanft, aber sehr bestimmt. »Du siehst die Kupferplatten. Piranesis Vermächtnis.« Sie grinste und zeigte dabei goldene Schneidezähne. »Du bist infiziert damit wie mit einer Krankheit. Sie werden dich nicht mehr loslassen, Jupiter. Piranesi ist hier bei uns.«
    Sie redete oft solch ein Zeug, aber in der Vergangenheit war ihm dabei selten so unwohl gewesen wie in diesem Augenblick.
    »Du nimmst diese Sache ziemlich leicht«, sagte er ein wenig hilflos.
    »Leicht?« Die Shuvani lachte auf. Er hatte beinahe vergessen, wie es klang, wenn sie lachte … ein lautes, rauhes Männerlachen. »Wir sind hier in Rom, mein Junge. Bei fünfzehn Millionen Touristen jedes Jahr ist es allein unsere Leichtigkeit, die uns davor bewahrt, uns wie Gefangene in einem antiken Disneyland zu fühlen.«
    »Es gibt einen Unterschied zwischen Leichtigkeit und Leichtsinn.«
    Die Shuvani wechselte einen kurzen Blick mit Coralina, vielleicht um zu erfahren, ob das auch ihre Meinung war. Diesmal aber blieb Coralina standhaft, und die Shuvani lächelte
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