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Das Haus der tausend Blueten

Das Haus der tausend Blueten

Titel: Das Haus der tausend Blueten
Autoren: Julian Lees
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sie sich mit diesem »grässlichen Woo-Jungen« traf. An Bord dieses Schiffes würde sie endgültig frei sein.
    Durchbrennen. Das Wort war in der Studentensprache des 19. Jahrhunderts entstanden und bedeutete: heimlich davonlaufen. Das hatte sie im Wörterbuch ihres Vaters nachgeschlagen. Ihrer Ansicht nach lief sie jedoch nicht einfach davon – sie setzte vielmehr ihren Traum in die Tat um. Ermuntert von Adrian würde sie sich in Cambridge um einen Studienplatz bewerben. Die Vorstellung, am Girton College studieren zu können, begeisterte sie fast noch mehr als ihr Vorhaben, Adrian Woo zu heiraten.
    Lu See schloss die Augen und spürte die letzten Strahlen der Abendsonne warm auf ihrem Gesicht.
    Ein paar Schritte hinter ihr stand Sum Sum in ihren schwarzen Leinenschuhen neben dem Koffer aus glänzendem Fischleder. Seit sieben Jahren war sie ihr Dienstmädchen, aber nicht nur das, sie war auch ihre Vertraute und beste Freundin. Sum Sums Mondgesicht hatte die Farbe von Darjeelingtee, ihre langen glatten Haare trug sie zu einem Knoten gebunden. Während Lu See gertenschlank war, hatte Sum Sum eine kompakte Sanduhrfigur mit ansehlichen Rundungen. Jetzt hielt sie ihren Rücken gebieterisch gerade, als sie Lu See mit ausgestrecktem Arm eine kleine rote Zwiebel unter die Nase hielt.
    »Gegen Erkältung«, sagte sie.
    Lu See warf Sum Sum einen empörten Blick zu. »Meinst du das ernst? Du erwartest doch nicht etwa von mir, dass ich eine rohe Zwiebel esse?«
    Noch während sie das sagte, spürte sie, wie ihr schon wieder die Nase lief. Sie schnäuzte sich herzhaft in ein Taschentuch.
    »Sicher, lah . Meine Mutter war prima Medizinfrau, lah . Sie hat mir immer Zwiebeln gegeben.«
    Das tongkang setzte seine Fahrt in Richtung Butterworth fort. Am Bug flatterte die Flagge der Malaiischen Föderation im Wind – horizontale Streifen in Weiß, Rot, Gelb und Schwarz mit einem tänzelnden Tiger in der Mitte. Ein Mitglied der Besatzung, ein Malake in einem kurzen Sarong, dessen Arme von der Sonne so gebräunt waren, dass sie fast schwarz wirkten, ging gerade zum Heck, wo er niederkniete. Er entrollte ein dickes Seil mit einem faustgroßen Haken, an dem ein Stück fauliges Hammelfleisch hing. Nachdem er das eine Ende an die Ankerwinde gebunden hatte, warf er das Seil mit dem Köder ins Wasser. Die Besatzung wollte offensichtlich ein Krokodil fangen, um das Fleisch für medizinische Zwecke und die Haut als Leder zu verkaufen. Der Lastkahn zog an einer Kulisse aus Palmwedeln vorbei. Als eine Windbö den Saum aus Schilf am Ufer bewegte, wurden die Nasenlöcher und die glitzernden, nassen Murmelaugen eines Reptils sichtbar, das im seichten Wasser dümpelte.
    »Eine Zwiebel?«, wiederholte Lu See streitlustig.
    » Aiyoo sami , keine Widerrede, lah . Ich bin älter als du.«
    »Lächerliche elf Tage!«
    Sum Sum hielt ihr die Zwiebel noch immer mit ausgestrecktem Arm hin. »Also, was ist jetzt? Isst du sie oder nicht? Mach schon, sonst werde ich noch richtig böse.«
    Lu See zog eine angewiderte Grimasse, dann biss sie in die Zwiebel. Auf der Stelle begannen ihre Augen zu tränen. Ein heftiger Niesreiz kitzelte sie in der Nase. Es kam ihr so vor, als kroch eine Qualle mit all ihren Tentakeln in ihren Nebenhöhlen langsam vorwärts. Sie hielt den Atem an, während sie darauf wartete, dass das Kribbeln nachließ.
    »Also?«, sagte Sum Sum, die sich offensichtlich nur schwer das Lachen verkneifen konnte. »Genau so, als wenn man in saure Guave beißt. So, und jetzt reib deine Haut mit Öl von Zitronengras ein, lah, damit die Moskitos dich nicht auffressen.«
    Als Lu Sees Augen zu tränen aufgehört hatten, starrte sie wieder in den stillen, dämmrigen Regenwald hinein. Unzählige Fledermäuse schwirrten dort hin und her. Ein Stück weiter flussabwärts konnte sie ein einsames Dorf am Ufer des Juru ausmachen – mehrere Reihen von Langhäusern aus Bambusrohr, die sich, auf Pfählen stehend, knapp drei Meter über dem Boden erhoben. Ihre mit Schilf gedeckten Dächer zeigten noch die Spuren der jüngsten Unwetter. Jedes Haus hatte auf der Vorderseite eine Veranda, wo Kinder mit baumelnden Beinen auf Matten saßen und Reis aus zu Schalen gefalteten Bananenblättern aßen. Sie winkten dem Boot fröhlich zu. Lu See und Sum Sum winkten zurück.
    Ein wenig später, inzwischen war auch der letzte Widerschein der Sonne vom Himmel verschwunden, und die ers ten Glühwürmchen begannen zu tanzen, stieß einer der Männer auf dem Boot einen lauten Schrei
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