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Das Haus der tausend Blueten

Das Haus der tausend Blueten

Titel: Das Haus der tausend Blueten
Autoren: Julian Lees
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dert hatte. Natürlich verschärfte die Katastrophe den Konflikt zwischen den beiden Familienclans, denn sie beschuldigten sich gegenseitig, den Damm sabotiert zu haben. Lu See erinnerte sich daran, dass Sum Sum ihr erzählt hatte, sie habe an jenem Tag, an dem sich die Tragödie ereignete, einen Mann mit einer Pistole gesehen. Wer war dieser Mann? Warum hatte er die Waffe auf sie gerichtet? Die Antwort auf diese Frage wusste niemand.
    Lu See und ihre Familie hatten an jedem einzelnen Begräbnis teilgenommen – muslimisch, christlich und taoistisch. Einige Totenfeiern waren Lu See besonders nahegegangen. Das Bild des toten Babys, fest in ein weißes Umschlagtuch gewickelt, verfolgte sie genauso wie das des alten Mr See, dem Eigentümer der Holzhandlung, mit seinem strähnigen chinesischen Bart, der so lang gewesen war, dass er ihn in seinen Hosenbund hatte stecken müssen. Bei jedem dieser Begräbnisse waren den Menschen die Trauer und der Kummer ins Gesicht geschrieben gewesen. Die Frauen hatten verzweifelt die Hände zum Himmel geworfen, sich kopfschüttelnd hin und her gewiegt. Die Männer hatten mit hängenden Schultern dagestanden und mit vor Verzweiflung geöffnetem Mund stumm zu Boden gestarrt.
    Doch es war das Begräbnis ihres Cousins Tak Ming, das ihr am meisten zusetzte. Tak Ming war der einzige Sohn ihrer Zweiten Tante Doris und erst zwanzig Jahre alt gewesen. Lu Sees Brüder James und Peter hatten ein besonders enges Verhältnis zu ihm gehabt. Als man seinen Sarg in die Erde hinabließ, stieß Lu See ein Wimmern wie ein Tier aus, das in einer Schlinge erstickt. Sogar Lu Sees Vater, der seinen Hut abgenommen hatte und ihn über sein Herz hielt, weinte hemmungslos.
    Nur Dritter Onkel Hängebacke war mit tränenlosen Augen stumm danebengestanden.
    Später hatte sie ihren Vater, Ah-Ba, im Garten gefunden. Er kniete auf dem Boden, sein Kopf ruhte auf der Wurzel eines Feigenbaums. Als er Lu See sah, drückte er sie so fest an sich, dass ihr die Rippen wehtaten. Dann griff er in seine Tasche und zog seine Geldbörse heraus. Als er sie aufklappte, kam ein Foto zum Vorschein. Es zeigte die fünfjährige Lu See mit ihren beiden Brüdern, die, eine Schüssel mit Lychees neben sich, auf den Stufen des Pavillons saßen. Lu See wischte sich die Hand an ihrem Rock ab, bevor sie das Foto herausnahm. Auch ohne, dass er es ihr sagen musste, war ihr klar, wie viel ihrem Vater dieses Foto bedeutete.
    »Ich sehe mir dieses Foto jeden Morgen nach dem Aufwachen an«, sagte er.
    Sie studierte sein Gesicht, die kleinen Muskeln, die darin zuckten.
    »Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn dir irgendetwas zugestoßen wäre. Wenn es meine Tochter und nicht Tak Ming gewesen wäre, die ich hätte begraben müssen.«
    Dies war der Moment gewesen, in dem sie beschlossen hatte, zum Andenken an ihren Cousin eine neue Orgel bauen zu lassen.
    Sie versuchte, jetzt nicht daran zu denken.
    Sie versuchte auch nicht daran zu denken, was man zu Hause über sie sagen würde. Die Gedanken ließen sie jedoch nicht los. Sie hörte die tadelnde Stimme ihrer Mutter laut in ihrem Kopf schallen. »Wie kann ein so hübsches Mädchen, mit einem so schönen Mund und einem so hellen Teint nur so etwas Dummes tun! Sie hat alles, was man sich wünschen kann. Ist eine gute Schülerin, hat lauter gute Noten. Cha! Und sie ist sportlich, aiyoo , so sportlich, hat in der Oberstufe sogar schon für die Englisch-Leistungsgruppe der Bing Hua Feldhockey gespielt …«
    Das reicht jetzt, beschloss Lu See. Sie brachte die Stimme ihrer Mutter mit einer ruckartigen Kopfbewegung zum Schweigen. Ich bin jetzt frei. Ich bin Teoh Lu See, neunzehn Jahre alt, und ich befinde mich gerade auf dem Weg in ein neues Leben. Ich mag zwar eine scheußliche Erkältung haben, aber ich fühle mich großartig! O Gott, ich mache das tatsächlich, ich … ich brenne tatsächlich gerade durch!
    Sie holte tief Luft. Noch nie hatte sie außerhalb ihres Elternhauses übernachtet. Durchbrennen. Für Lu See war das ein herrliches Wort, voller Tabus, Geheimnisse und Abenteuer. Die Vorstellung, einfach von zu Hause wegzulaufen, erregte und erschreckte sie gleichermaßen, ebenso wie der Gedanke, dass sie in Penang an Bord eines gewaltigen Liniendampfers gehen und die lange Seereise nach England antreten würde. Auf dem Schiff würde wenigstens niemand ein Urteil über sie fällen, würde sie niemand tadeln. Es würde keine Hochzeit mit dem Einäugigen Riesen geben, keine Zurechtweisungen, weil
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