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Das Haus der tausend Blueten

Das Haus der tausend Blueten

Titel: Das Haus der tausend Blueten
Autoren: Julian Lees
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dann hielt sie abrupt inne und drehte sich um. Hinter ihr im Wald war jemand. Sie hörte einen Ast knacken, dann mehrere leise Pfiffe. Zwanzig Schritte von ihr entfernt tauchte plötzlich ein Mann aus dem Dickicht auf. Er war von Kopf bis Fuß in Grau gekleidet und hatte ein Muttermal auf der linken Wange. Eine seiner Schultern hing deutlich nach unten, und er schien sie noch nicht bemerkt zu haben. Ganz automatisch drückte das Dienstmädchen auf den Auslöser. Durch den Sucher erkannte sie, dass er eine rote Blechdose in der Hand hielt. Er entnahm ihr etwas, das sie jedoch nicht erkennen konnte, und warf die Dose dann in einen Busch. Sie beschloss, sich diesen Behälter später einmal genauer anzusehen.
    Als sie die Kamera herunternahm und dabei vorsichtig das Gewicht verlagerte, raschelte das Gras unter ihren Füßen. Jetzt traf sie sein Blick. Seine schwarzen Augen funkelten, und seine Lippen verzogen sich zu einem höhnischen Grinsen.
    Als sie die Pistole in seiner Hand sah, rannte sie los.
    Ein tiefes Donnergrollen erklang, gefolgt vom Kreischen der Vögel und dem Gebell sämtlicher Hunde im Dorf. Der Boden bebte, Blätter fielen von den Bäumen. Aus feinen Rissen im Damm, die sich in der Wand aus Baumstämmen gebildet hatten, begannen kleine Wasserfontänen zu sprühen. Es sah aus, als würden Nadeln aus Licht durch schwarze Peranakan -Spitze leuchten.
    Der Damm begann zu zittern. Er ächzte.
    Dann schließlich brach er mit einem ohrenbetäubenden Krachen in sich zusammen.
    Eine riesige Flutwelle ergoss sich über das Flussbett und schleuderte die Baumstämme des Walls umher, als wären es Zahnstocher. Wie ein gefräßiges Seeungeheuer rasten die Wassermassen auf die Uferböschungen zu und machten dabei alles, was ihnen im Weg stand, dem Erdboden gleich. Die Fluten rissen eine Herde Ochsen in einer Wolke aus Gischt mit sich, erfassten einen einsamen Fischer und verschlangen ihn, wie einst Jonas vom Wal verschluckt worden war. Das Wasser überspülte ein kleines Haus und trug es einfach mit sich davon, mitsamt einem Kind, das sich noch darin befand. Die Wogen zerstörten alles, was ihren Weg kreuzte, schwollen mit jeder Sekunde höher an, während sie auf das größte der Dörfer zurollten.
    Sie lag auf dem Bauch, sein Gesicht hatte er auf ihren Rücken gebettet. Es war ein wunderschöner, klarer Abend. Die Moskitos versteckten sich im hohen Gras, und die jetzt tief stehende Sonne hing am Himmel wie ein glänzender, kupferfarbener Penny. Aus der Ferne hörte sie das Lachen und den Lärm der feiernden Menge. Durch das Blätterdach sah sie die Reihen von Gummibäumen, die sich viele Kilometer weit erstreckten.
    »Ich weiß noch, wie mich mein Vater zum ersten Mal zur Kautschukplantage mitgenommen hat«, sagte sie nachdenklich. »Ich muss fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein. Wir haben in die Rinde eines Gummibaumes eine Kerbe geschnitten und den Saft dann in eine Schüssel tropfen lassen. Damals hat Ah-Ba viel mit mir unternommen.«
    »Aber jetzt tut er das nicht mehr.«
    »Nein. Jetzt beherrscht das Geschäft sein Leben.«
    Sie hob ihren Kopf über den Rand des Baumhauses, um den Geräuschen des Waldes zu lauschen, genoss dabei die leichte Brise, die von der fernen See herüberwehte und sacht über ihre Haut strich.
    Plötzlich hörte sie das Rascheln von Blättern. In diesem Moment glaubte sie, im Augenwinkel eine menschliche Gestalt zu erkennen – einen gesichtslosen Mann, dessen Umriss für einen kurzen Moment im Chinaschilf aufgetaucht war. Ein seltsames Gefühl breitete sich in ihrer Magengegend aus. Sie suchte mit ihren Augen den Wald ab. Nervosität ergriff von ihr Besitz. Hatte sie nicht die Silhouette eines Mannes gesehen, der gerade im Schatten des Waldes verschwand? Sie war sich nicht sicher.
    Zweige knackten, ein kurzer, scharfer Pfiff ertönte. Offensichtlich ein Signal, das von einem zweiten Pfiff beantwortet wurde.
    Sie setzte sich kerzengerade hin und griff nach ihrer Kleidung. Sie wollte nur noch weg.
    »Was ist los?«, fragte er.
    »Ich will gehen.«
    »Du zitterst ja!«
    »Ich glaube, dass uns jemand gesehen hat.«
    Hastig zogen sie sich an und kletterten vom Baum herunter. Eiskalte Angst kroch dem Mädchen bis ins Mark. Und dann hörte sie es: ein grollendes Donnern, als gerieten große Felsen unter dem Gewicht von Hunderten von Wasserfällen in Bewegung. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, was das war, aber sie spürte deutlich die Vibrationen durch die dünnen Sohlen ihrer
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