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Das Haus der tausend Blueten

Das Haus der tausend Blueten

Titel: Das Haus der tausend Blueten
Autoren: Julian Lees
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wie ein Faden über ihre Brust geschnürt, sich immer tiefer mit sich selbst verflochten wie die Schlafmatten der Iban von Sarawak. Jetzt jedoch begann sich das Geflecht langsam wieder aufzulösen. Während sie sich immer weiter vom ländlichen Refugium ihrer Familie entfernten, spürte Lu See, wie ihre innere Unruhe nachließ und sich stattdessen ein Gefühl von Hoffnung und Aufregung in ihr breitmachte. Zwar hatte sie noch immer große Angst, dass ihr Vater oder ihr Dritter Onkel Hängebacke sie zurückholen könnten, nun aber, da sie den ersten Schritt getan hatte, war sie in Hochstimmung. Ihre Zukunft lag jetzt in den Händen der Götter.
    Einige Stunden zuvor, noch vor dem Morgengrauen, hatten sich Lu See und Sum Sum durch den Dienstbotenausgang von Tamarind Hill davongestohlen. Mit einem Schubkarren, in dem sie Lu Sees Koffer transportierten, waren sie so leise, wie es ihnen möglich gewesen war, über den schwarzen Rasen geschlichen. Zuerst hatte Lu See kaum etwas erkennen können. Als sich ihre Augen jedoch an die Dunkelheit gewöhnt hatten, hatte sie schräg vor sich die Reihe mächtiger Tamarinden ausgemacht, die die Auffahrt säumten. »Dort entlang«, hatte sie ihrer Begleiterin zugeflüstert und gespürt, dass sie die Nerven zu verlieren drohte. Das Atmen fiel ihr schwer.
    Sum Sum schlurfte neben ihr. Sie wechselten immer wieder beklommene Blicke. Mit vereinten Kräften schoben sie den Schubkarren die unbefestigte Straße entlang. Als der Mond hinter den Wolken hervortrat, gingen sie schneller, da sie wussten, dass man sie jetzt, vor dem Hintergrund des umgebenden Waldes, sehen konnte. Nach einer Weile verlor Lu See jedes Zeitgefühl; ihre Welt beschränkte sich auf das Knirschen des Schubkarrenrads auf der Straße, auf ihre schmerzenden Hände, mit denen sie die Lenkstangen hielt, und die geradezu erstickende Angst, dass man sie zurückholen könnte. Sie war so auf sich selbst konzentriert, dass sie, als sie das Ufer des Flusses erreichten, gar nicht hörte, wie Sum Sum zu ihr sagte: »Wir nehmen kleine Ruderboot und steigen dann um in tongkang . Es liegt ungefähr einsundeinhalb Kilometer weiter, die Fluss runter. Ich hab schon alles geregelt.«
    Lu See sah zu, wie ihr Dienstmädchen in die Hocke ging, die Hand ins Wasser des Juru tauchte und dann an einem dicken Seil zog. Lu See nahm plötzlich die Stille wahr, die sie umgab – es war, als verharrten selbst die Tiere der Nacht in ihrem Tun und beobachteten sie.
    Das Mondlicht lag glänzend auf dem glatten, schwarzen Wasser des Flusses. Sum Sum stieg in den kleinen Kahn und legte die Ruder ein. Lu See verstaute den Koffer im Heck und kletterte dann in das kleine Boot, wobei sie versuchte, es mit einer Hand am Ufer im Gleichgewicht zu halten. Der Kahn war flach und leicht und kippelte unter ihren Bewe gungen so heftig hin und her, dass sie sich beeilte, Platz zu nehmen.
    »Bist du so weit, meh ?«, fragte Sum Sum.
    Lu See nickte. Sie warf einen letzten kurzen Blick zurück, um zu sehen, ob ihre Füße im matschigen Boden Spuren hinterlassen hatten.
    Sum Sum löste die Vertäuung und stieß den Kahn vom Ufer ab. Lu See spürte Wassertropfen auf ihren Unterarmen, als das kleine Boot, das jetzt, da es beladen war, nicht mehr schaukelte, flussabwärts schwamm. In der Ferne, auf dem Hügel am oberen Ende der Auffahrt, konnte sie ihr Zuhause erkennen – kleine leuchtende Lichtpunkte ließen erkennen, dass die Bediensteten erwacht waren. Während das kleine Boot und seine Besatzung mit der Dunkelheit verschmolz, begann ein Hahn zu krähen. Es würde nicht lange dauern, bis man nach ihr suchte.
    Der Bruch des Damms hatte das gesamte Dorf in einen Schockzustand versetzt. Wochenlang hörte man nachts in den Häusern die Menschen weinen. Wer über den Dorfplatz ging, hatte jedes Mal die Asche des heiligen Papiers in den Haaren, das die Mönche im Tempel verbrannten, um die Götter um Gnade zu bitten.
    Seit dem Unglück war ein halbes Jahr vergangen. Es hatte mehrere Monate gedauert, um die Schäden wenigstens notdürftig zu reparieren, und beinahe ebenso lange hatte man gebraucht, um die Toten zu bergen. Noch Wochen nach dem Dammbruch wurden verwesende Körper, aufgebläht und weiß, viele Kilometer weiter flussabwärts aus dem Strom gezogen. Die meisten der Leichen konnten nicht mehr iden tifiziert werden. Offiziell wurde von zweiunddreißig To desopfern gesprochen, aber Lu See war sich sicher, dass das Unglück mehr als doppelt so viele Menschenleben gefor
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