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Das Haus der tausend Blueten

Das Haus der tausend Blueten

Titel: Das Haus der tausend Blueten
Autoren: Julian Lees
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aus. Das dicke Seil an der Ankerwinde hatte sich gestrafft. In diesem Moment sah auch Lu See das Krokodil, das sich in das Hammelfleisch verbissen hatte. Sie erblickte das lang gestreckte Maul, den blassen, geriffelten Unterbauch, den geschmeidigen Schwanz. Die ineinandergreifenden Zähne hatten zugepackt, und das Krokodil drehte sich ständig um sich selbst, wirbelte das spinatgrüne Wasser zu milchig trübem Schaum auf. Die glasigen, kugelförmigen Augen des Tieres schienen Lu See einen Moment lang anzustarren, ihr zu folgen, bevor die Männer das Reptil in das sich jetzt bedenklich zur Seite neigende Boot zogen.
    Lu See beobachtete die Männer, die alle die typisch dunklen Gesichter und kräftigen Hände von Seeleuten hatten, wie sie sich sofort um das Tier scharten, ein jeder von ihnen einen Knüppel oder ein scharf geschliffenes parang in der Hand. Das über zwei Meter lange Krokodil fauchte. Jemand zündete eine Laterne an und hielt sie an einem Stab hoch in die Luft, während die Männer ihre Waffen schwangen. Der mächtige, muskulöse Schwanz des Tieres schlug immer wieder dumpf auf das Deck, und schon bald hinterließen menschliche Füße blutige Abdrücke auf den Planken. Schließlich stach eine Machete mit einem heftigen Stoß in das runzelige Fleisch zwischen den Augen des Tieres. Ein Schwall schwarzes Blut schoss hervor. Dann lag das Krokodil reglos wie ein Stück schweres Treibholz auf dem Deck.
    Die Männer schlugen unter lautem Geschrei weiter auf den Kadaver ein, trennten den Kopf des Reptils vom Körper. Blut spritzte auf ihre Sarongs. Lu See stand mit bleichem Gesicht da, konnte den Blick aber nicht von dem grausigen Schauspiel abwenden. Der Lärm scheuchte die Bülbüls von den Bäumen auf, bevor sie sich, lautstark um die besten Plätze streitend, wieder auf den Ästen niederließen.
    Dann war mit einem Mal ein weiterer Schrei zu hören. Diesmal klang er jedoch entsetzt. Die Männer hielten abrupt inne. Einer oder zwei von ihnen ließen ihr parang fallen.
    »Was ist los?«, fragte Lu See. »Was hat das zu bedeuten?«
    Sum Sum hangelte sich an der Steuerbordreling entlang, um herauszufinden, weshalb die Männer jetzt so aufgeregt debattierten. Sie sah die Vorderbeine des Reptils, dunkel und mit spitzen Zehen ohne Schwimmhäute. Dann erhaschte sie einen Blick auf ein Hinterbein – mit Schwimmhäuten und amphibisch wie die Hände in den gruseligen Wachsfigurenkabinetten.
    »Sie sagen, dass die Krokodil ein Bein fehlt. Sie sagen, dass es Unglück bringt, wenn man Flussdrachen fängt, der nur drei Beine hat. Die vierte Bein erscheint einem dann im Traum und holt das erste Kind.«
    »Glaubst du, dass das wahr ist?«
    »Beim Dharmakaya-Himmel, wie ich sollen das wissen? Ich auf dem Land in Nähe von Lhasa aufgewachsen.«
    »Und so wie du dich kleidest, siehst du auch noch immer so aus, als würdest du auf dem Feld arbeiten.« Lu See bückte sich zu einer der Reisetaschen aus Fischleder hinunter und ließ den Verschluss aufschnappen. »Hier«, sagte sie und drückte Sum Sum ein zusammengefaltetes Stück blaue Baumwolle in die Hand.
    »Was ist das?«
    »Wofür hältst du es denn, Kürbiskopf? Es ist ein Strandkleid.«
    »Und was sollen ich damit machen?«
    »Es anziehen, natürlich.«
    Sum Sum stemmte die Hände in die Hüften und blickte an ihrer weißen Dienstmädchenkleidung herunter. »Warum?«
    »Weil wir auf der Flucht sind und uns niemand erkennen soll, wenn wir morgen früh an Bord des Dampfers gehen werden.«
    »Bestimmt fühlt man sich so, wenn man Bank überfallen hat.«
    »Ich habe unsere Passagen auf der Jutlandia zwar unter falschem Namen gebucht, aber Vater und Dritter Onkel Hängebacke werden bestimmt schlau genug sein, um sich nach einer jungen Chinesin und ihrer kürbisköpfigen Dienerin zu erkundigen.«
    »Unter Falschnamen? Aiyoo , das ist wirklich aufregend, lah ! Unter welchem Namen denn?«
    »Lucy Apricot.«
    »Was für eine verrückte Idee! Nach England fahren, das ist wie in Märchen. Ich finde es toll!«
    »Ich weiß. Wenn du das hier anziehst, werden wir jedenfalls weniger auffallen. Dritter Onkel Hängebacke wird uns dann nicht so leicht finden.«
    »Also, dann könntest du mir vielleicht auch etwas von dein Schmuck geben? Ohrring von Jade mit die Tiger, lah ?«
    »Manchmal frage ich mich, warum ich dich nicht einfach in Tamarind Hill gelassen habe.«
    Lu See sah auf das dunkle Wasser hinaus und schüttelte den Kopf. Das tongkang trieb jetzt gemächlich auf dem Fluss dahin.
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