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Das Haus der tausend Blueten

Das Haus der tausend Blueten

Titel: Das Haus der tausend Blueten
Autoren: Julian Lees
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strahlenden Diamanten.
    Ihr Freund, der Chirurg, hatte ihr erst wenige Tage vor ihrer Abreise einen Heiratsantrag gemacht. Liebte sie ihn? Ja! Liebte sie auch Bong noch? Natürlich! Sie würde ihn niemals vergessen. Aber seit seinem Tod waren fünf Jahre vergangen. Der Notstand war schon lange aufgehoben, und auch ihr Leben musste weitergehen. Sie hatte jetzt wieder Boden unter den Füßen, war in den Schoß ihrer Familie zurückgekehrt. Sie stand der sozialistischen Idee noch immer sehr nahe, aber anstatt mit der Waffe in der Hand zu kämpfen, hatte sie einen besseren Weg gefunden, um den Armen zu helfen – sie heilte sie. Ja, sie führte wieder ein schönes Leben. Ein Leben, das noch dazu einen gewissen Glanz hatte. Es besaß den Schimmer von etwas, das vollkommen, intensiv und neu war.
    Lu See drückte aufmunternd Mabels Arm und machte sich dann auf den Weg zu Einheit 23 B. Als sie vor dem Gebäude stand, blickte Lu See auf das Schild, auf dem in roter Farbe einige tibetische Schriftzeichen standen. Das muss es sein, sagte sie sich.
    Das Herz schlug ihr bis zum Hals.
    Sie holte tief Luft, klopfte mit den Fingerknöcheln an den Türrahmen und wartete.
    Nichts. Keine Antwort.
    Sie klopfte noch einmal und steckte dann vorsichtig den Kopf durch die halb geöffnete Tür.
    Im Halbdunkel am anderen Ende des Raums saß eine Frau. Im matten Licht sah sie gebeugt und alt aus. Die Fenster standen weit offen. Eine kühle Brise ließ die Seiten eines Gebetsbuchs rascheln, dennoch hing ein saurer Geruch wie von abgestandener Milch im Raum.
    »Sum Sum?«, rief Lu See leise.
    Sie starrte angestrengt in die Dunkelheit, suchte nach der vertrauten Form eines Gesichts.
    Es dauerte längere Zeit, bis sich die gebeugte Gestalt aus ihrer sitzenden Position aufrichtete. Langsam bewegte sie sich aus dem Schatten heraus, erhob sich wie eine zerknitterte Fledermaus von ihrem dürren Thron. Sie schlurfte unter mühseligem Keuchen über einen Teppich, der bis auf das darunter liegende Gewebe abgetreten war, machte dabei winzige Schritte, so als hätte sie Schuhe aus Zement an den Füßen. Ein Schritt vorwärts, Pause, wieder ein Schritt vorwärts, Pause.
    Das Erste, was Lu See sah, waren ihre Hände, die wie Hühnerklauen aussahen, und die hervorstehenden grünen Adern, so milchig grün wie Wasser in einem Abfluss. Sie sahen aus wie erfroren.
    Dann fiel das Licht der Sonne auf das Gesicht der Frau.
    Lu See musste ein erschrockenes Keuchen unterdrücken. Sie sah die Spuren des Alters; das verfallene Gesicht, von einer Myriade tiefer spinnennetzartiger Linien durchzogen; Augen, die vom grauen Star getrübt waren. Als sich die Blicke der beiden Frauen begegneten, lag im Gesicht der Fremden nicht das geringste Zeichen des Wiedererkennens.
    »Sum Sum, ich bin’s. Lu See.«
    Die Frau neigte sichtlich verwirrt ihren geschorenen Kopf. Ein leises Gurgeln kam aus ihrer Kehle. In diesem Moment sah Lu See das verräterische Hängen eines Mundwinkels und erkannte, dass die Frau einen Schlaganfall erlitten hatte.
    Lu Sees Herz löste sich auf wie ein Paar alte Schuhe mit geflochtenen Sohlen.
    »Ich bin gekommen, um dich zu sehen. Nach all den Jahren ist es mir endlich gelungen, dich zu finden.« Lu See versuchte fröhlich zu klingen. »Mabel ist auch da. Sie wartet auf dich.«
    Die Frau blinzelte. Ihr Gesicht ähnelte einem Wasserball, der Luft verloren hatte. Verwirrt wandte sie sich ab.
    Lu See ließ nicht locker. »Kürbiskopf. Ich bin’s, Lu See.«
    Vergeblich. Die Frau drehte sich langsam um und entfernte sich von Lu See, mit schweren Schritten über den abgetretenen Teppich schlurfend. Als sie ihren Stuhl erreicht hatte, sank sie darauf nieder. Schaumflöckchen lagen auf den Lippen.
    Lu See sah, wie die Frau, gebeugt von der Last ihrer Krankheit, die Augen schloss.
    Ein Kloß der Verzweiflung bildete sich in Lu Sees Hals. Ein dumpfer Schmerz explodierte in ihrer Brust. Sie rieb sich mit der Hand übers Gesicht und sah vor ihrem geistigen Auge, wie sie versuchte, das alles Mabel möglichst schonend beizubringen. Vielleicht sollte sie zur Unterstützung eine der jüngeren Nonnen herbeiholen?
    Dann plötzlich dröhnte eine tadelnde Stimme hinter ihr: »Du bist völlig plemplem, wenn du glaubst, ich das bin! Gute Frau ist 68 Jahr alt, lah !«
    Lu See fuhr herum.
    Zuerst verwirrte sie der kahl geschorene Kopf. Dann aber sah sie in das Gesicht, das Gesicht mit den flachen Gesichtszügen und der Zornesfalte, die zwischen den Augen stand.
    Kein
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