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Das Haus der glücklichen Alten

Das Haus der glücklichen Alten

Titel: Das Haus der glücklichen Alten
Autoren: Valter Hugo Mae
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Familie, auf die ich nicht hätte hoffen dürfen. Ohne Blutsbande vereint, zusammengeführt durch das Schicksal, die Einsamkeit miteinander zu teilen. So verteilt, die Einsamkeit jedes Einzelnen dem anderen anvertraut, bildete sie so etwas wie eine Familie. Sie war eine Bruderschaft des Herzens, eine unvergleichliche Fähigkeit, treu zu sein. Ich reichte dem europäischen Silva die Hand und sagte, und Américo, Américo auch, der ist mein Freund.
    Nie hätte ich erfahren, wie ein Mensch von einem anderen verletzt werden kann. Nie hätte ich erfahren, wie ein Fremder zu uns gehören und wie er uns fehlen kann. Ganz unerwartet war es festzustellen, dass Familie auch jenseits der Blutsbande, jenseits der Liebe entstehen oder dass Liebe etwas ganz anderes sein kann, eine zwischenmenschliche Energie gleichsam, die keinen Unterschied macht, Achtung und Fürsorge für alle Menschen. Der europäische Silva lächelte und nickte zustimmend. Er sagte, ich solle nicht verzweifeln, man müsse mich noch lange Zeit in meinem Zimmer lassen, und wenn der Spanier lebte und Krach machte, würde ich nicht ins Zimmer von Esteves kommen, wo die unheimlichen Wissenschaftler gefährliche Experimente mit denen machten, die auf Anordnung von Senhor Medeiros sterben sollten. Freund Silva, wir gehören zur schlimmsten Sorte, wir sind wild, irgendeine Bedrohung haut uns nicht um, wir halten noch lange durch, Sie und ich, damit wir noch miterleben, wozu Anísios Romanze mit der Fußkranken führt. Ich lachte trotz meiner Schmerzen und meiner Verwirrung, und ich dachte an Dona Glória do Linho, wie sie auf Zehenspitzen von einer Seite des Heims zur anderen lief, während Anísio sie mit Liebkosungen und weibischen Koseworten antrieb. Komm schon, liebste Glória, wir sehen uns die Blumen an, wir lauschen den Vögeln, wir entdecken in den Wolken alle möglichen Gestalten. Das Buch, das er schreiben wollte, dieses Vermächtnis für die Menschheit, das seinen Namen für immer lebendig erhalten und ebenso würdig wie die von ihm verehrten Museumsstücke oder noch würdiger sein sollte, schrieb er inzwischen nicht mehr, und sie blieb untröstlich, verlangte nach Liebe, als hungerte sie nach einer Speise.
    Die Briefe mit den für Dona Marta erfundenen Liebeserklärungen wurden vor meinen Augen einer nach dem anderen von Anísio zerrissen. Von allen, die ich für diese Aufgabe aussuchen konnte, war er der Ungeeignetste, und ich wusste das sehr gut. Ich wusste, indem ich ihn zwang, die lange Liebeserklärung, das Zeugnis von ihr auszulöschen, quälte ich ihn auf geradezu perverse Art. Ihn sollte der Gedanken peinigen, dass auch von ihm kein Dokument bliebe. Ich glaube, ich mochte Dona Glória do Linho wirklich nicht mehr, sie hatte ebenso viel von einer Lolita wie von einer Egoistin, die unseren Freund bei lebendigem Leibe auffraß. Anísio war auch derjenige, der meiner Erpressung am ehesten nachgeben würde. Er hatte sich von uns zurückgezogen, die gelebte Freundschaft zwar nicht vergessen, aber keine Zeit mehr dafür übrig. Es war ein Leichtes, ihm seine Untreue unter die Nase zu reiben. Ich sah, wie er jeden Brief in winzigste Schnipsel zerriss und es für immer unmöglich machte, ihn zu lesen. Er fragte mich, warum ich nicht zuließ, dass sie blieben. Sie würden bei den glücklichen Alten eine hübsche Geschichte abgeben. Ich sagte, nein, das wollte ich nicht, weil sich hübsche Geschichten zufällig ereigneten, und ich hatte gerade gelernt, dass sich das Leben mehr treiben lassen, sich mehr dem Zufall überlassen muss, denn wer sich vor allem schützt, flieht vor allem.
    Sie wollten mich in den linken Flügel verlegen, und ich konnte mich nicht länger dagegen wehren. Ich stand nicht mehr auf, ich lag ausgestreckt da, die Beine kribbelten mir wie in einem Ameisenhaufen, der Mund aufgerissen, als flehte ich nach Luft. Ich hätte kein Buch mehr packen und darauf hoffen können, jemanden damit zu erschlagen. Ich hätte mich nicht einmal gegen Senhor Medeiros wehren können, der geradezu unzerstörbar war. Ich hätte nicht einmal verstehen können, was fortan geschehen würde. Mein Gehirn sackte immer tiefer, es stürzte im Körper herab, befand sich schon unter dem Herzen, langsam verdrängte es alles von seinem Platz, verbrannte, erodierte durch die Reibung an einem rauhen Stein. Mein Gehirn riss sich von mir los und vernichtete zunehmend jede Erinnerung, jedes Verlangen. Ich hatte das Sekundengedächtnis der Fische erreicht. Den
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