Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Haus der Bronskis

Das Haus der Bronskis

Titel: Das Haus der Bronskis
Autoren: Philip Marsden
Vom Netzwerk:
lieber Philip. Z.
     
    Als ich wieder in London war, gab mir jemand den Namen eines polnischen Kunsthändlers in der Jermyn Street. Der verwies mich an einen Professor in Minsk, der wiederum eine Einladung schickte. Nachdem ich ein paar Vormittage auf dem Gehweg vor dem sowjetischen Konsulat angestanden hatte, hatte ich die Visa. Ende April nahm ich sie mit nach Cornwall. Zofia arbeitete in ihrem Blumenbeet.
    »O wie wunderbar, Phiilip! Sieh nur!« Sie zog schnell die Handschuhe aus, nahm die Visa und blätterte sie durch. »Wir fahren also wirklich!«
    Nur der Anblick ihres eigenen Namens in kyrillischen Buchstaben versetzte ihrer Begeisterung einen Dämpfer.
    Wir verbrachten mehrere Tage mit Vorbereitungen. Ich las noch einmal Helenas Aufzeichnungen; Zofia kaufte sich ein Paar Schuhe mit Kreppsohlen. »Reiseschuhe«, flüsterte sie. »Schuhe für die Geisterjagd!«
    Am Tag vor der Abreise wanderten wir zu einem Bach oberhalb von Ruan Lanihorne. Es war die erste Maiwoche. Die Bäume bedeckte ein zaghafter grüner Flaum; Leinkraut hing von einer alten Steinbrücke herab. Der Bach gurgelte unter ihr, bevor er in die Bucht hinüberglitt und sich in den Gezeiten verlor.
    »Pflicht«, grübelte Zofia. »Mehr als alles andere hat meine Mutter mir vielleicht den Begriff der Pflicht eingebleut.«
    »Ist es deine Pflicht zurückzugehen?«
    »Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Das ist etwas anderes. Ich gehe für mich zurück, nicht für meine Mutter. Nein, es war mehr ein Kodex, den sie hatte, ein rasend strenger Pflichtkodex, der ihr ganzes Leben bestimmt hat.«
    »Und doch hat sie immer versucht zu fliehen.«
    »Ja, oder sie war dazu gezwungen.«
     
    Wenn Helena nicht vor plündernden Armeen floh, schien sie ständig gegen die Beschränkungen ihrer Stellung anzukämpfen   – gegen ihre Mutter, ihre Familie, ihre Verehrer.
    Die früheste Geschichte in ihren Tagebüchern betrifft einen kurzen Aufenthalt in einem Krakauer Kloster. Sie war vierzehn; das Jahr war 1913.   Im Kloster eingetroffen, hatte sie sich die anderen Mädchen angesehen, die Nonnen, die blankgebohnerten braunen Gänge; und hatte zwei Wochen lang ihre Flucht geplant. Eines Nachts nahm sie einen Laib Brot und eine Feldflasche mit Wasser und kletterte auf die Klostermauer.
    Es war eine stille, kalte Nacht mit starkem Frost. Helena kauerte sprungbereit auf der Mauer.
    »Helena O’Breifne! Bleib, wo du bist!«
    Sie erstarrte. Es war die Mutter Oberin, sie stand unterhalb der Mauer.
    »Helena!«
    »Ja, Mutter Immaculata.«
    »Was glaubst du, was du da tust?«
    Sie sagte nichts.
    »Ohne deinen Paß kommst du nirgendwohin. Hier, ich habe ihn dabei. Wenn wir uns beeilen, sind wir noch rechtzeitig am Bahnhof, um den Zug nach Warschau zu bekommen. Was hältst du davon?«
    Helenas Plan zerfiel vor ihren Augen. Er schien ihr auf einmal kindisch und naiv. Sie kletterte in den Klosterbereich zurück.
    Mutter Immaculata nahm sie mit nach drinnen und setzte sie in ihr Dienstzimmer. »Hela, hör zu, ich weiß, wie unglücklich du dich fühlst. Aber es wäre jammerschade, wenn du nichts lernen würdest. Meinst du nicht auch?«
    Helena nickte.
    »Ich möchte, daß wir Freundinnen werden. Bitte komm zu mir, sooft du magst.«
    Wie kann man mit einer Nonne befreundet sein, dachte Helena. Aber in den folgenden Wochen merkte sie, daß sie immer mehr Zeit bei Mutter Immaculata verbrachte. Nach der Messe saßen sie in ihrem Dienstzimmer beieinander und redeten. Die anderen Mädchen piesackten Helena deswegen, aber das war ihr gleich. Zum erstenmal fühlte sie Zuneigung zu jemandem, der kein Mitglied ihrer Familie war   – und auch keins ihrer Tiere. Niemand sonst ermutigte sie auf diese Art und Weise, weder vorher noch nachher.
    Im darauffolgenden Sommer schrieb Mutter Immaculata in der Ferienzeit einen Brief, sie werde durch Wilna kommen. Könne sie die O’Breifnes besuchen? Helena war selig. »Denk dir, Mama, du lernst Mutter Immaculata kennen!«
    Ihre Mutter las den Brief. Sie schüttelte den Kopf. »Deine Freundschaft mit dieser Nonne ist unnatürlich. Ich verbiete dir, sie zu sehen.«
    In jenem Herbst wurde Mutter Immaculata nach China versetzt. Sie wurde dorthin geschickt, um in einer Ursulinenmission zu unterrichten. Zwar schrieb Helena ihr oft und bekam lange Antwortbriefe, die sie stets an ihre Pflicht gegenüber ihrer Begabung mahnten, zwar blieben die Sätze in jenen Briefen ihr für den Rest des Lebens gegenwärtig, aber sie sah Mutter Immaculata nie
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher