Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Haus der Bronskis

Das Haus der Bronskis

Titel: Das Haus der Bronskis
Autoren: Philip Marsden
Vom Netzwerk:
sogar ein paarmal ausprobiert . . .«
    Ich sah die beiden Bilder genau an. Ich versuchte mir einzureden, daß es etwas anderes war. Es waren die Tagebücher, die Briefe, ihre außergewöhnliche Geschichte; es war die Art und Weise, wie diese Frau, Helena O’Breifne, die steilsten Höhenlinien unseres Zeitalters gequert hatte; es war, daß für mich, der ich in ebeneren Jahrzehnten lebte, in einem ruhigeren Winkel Europas, ihre Welt all das verkörperte, was verlorengegangen war, ein Land rückständiger Dörfer, verdreckten Viehs, uneingezäunter Felder, ein Land, wo man das Vergehen der Zeit nur vor dem Hintergrund der Jahreszeiten wahrnahm, ein Land, in dem das Leben aus Übertreibungen bestand   – Übertreibung im Wohlstand, in der Armut und im Leid   –, Lebensläufe, die von einer Geschichte herumgestoßen wurden, die niemand unter Kontrolle zu haben schien: Helenas Welt war größer, grausamer, eine Welt halbverrückter Adliger, die von geborgter Zeit lebten, und würdevoller Bauern, die außerhalb der Zeit lebten, es war ein anderes, ein älteres Europa.
    Aber Zofia hatte natürlich recht. Mein Interesse war auch ein sehr viel banaleres. Es hatte ebensoviel damit zu tun, wie Helena mit ihrer Halskette spielte.

3.
    I ch verreiste
für sechs Monate und kehrte im folgenden Frühjahr nach Cornwall zurück. In Braganza kämmte Zofia das Fell ihres Dackels. Durchs Fenster konnte ich Narzissen am Fuß der Araukarie sehen. Die Bucht unten war graublau und gekräuselt. Das SOLIDARNOS C-Ban ner war vom Kaminsims verschwunden.
    Zofia begrüßte mich mit dem traurigen offenen Lächeln ihrer blauen Augen.
    »Phiilip, wie schön, daß du wieder da bist!«
    Wir saßen da und redeten eine Weile, dann leuchteten ihre Augen auf, und sie sagte: »Ich muß dir unbedingt etwas zeigen. Etwas ganz Besonderes!«
    Sie stand auf und holte eine große intarsierte Schmuckschatulle aus dem Nebenzimmer. Zwischen den Perlensträngen, Bernsteinbroschen und diamantbesetzten Ohrringen lag ein Stückchen Beton. »Es ist letzte Woche mit der Post gekommen. Rätst du, was es ist?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Aus Berlin! Mein Vetter hat es mir geschickt.« Sie klaubte das kleine Überbleibsel heraus und hielt es mir hin. »Die Mauer, Phiilip. Es ist ein Stück von der Mauer.«
    Sie hielt inne. Jahrzehnte des Verlusts zogen über ihr Gesicht. Ich kannte diesen Ausdruck gut; ihr ganzes Wesen schien kurz davor zu sein, unter dem Druck zu bersten, der dahinterstand: das halbe Jahrhundert Trennung, ihre auseinandergerissenen beiden Leben, das entzweigerissene Europa.
    Zweiundfünfzig Jahre war es her, seit sie an jenem Morgen im Frühherbst 1939 auf einem Karren geflohen war. Und seither nichts. Nicht die kleinste Nachricht hatte sie erreicht   – weder vom Dorf noch vom Haus, noch von den Menschen, die sie gekannt hatte. Nach Jalta war das Polen, das sie gekannt hatte, nicht mehr Polen. Es war Stalins Weißrußland und ein zu grenznaher Teil davon, als daß Ausländer ihn hätten besuchen dürfen. Nicht einmal Gerüchte drangen heraus   – nur wilde Spekulationen: daß das Dorf im Krieg zerstört, von der Sowjetarmee zu einem Truppenübungsplatz gemacht, nach Tschernobyl radioaktiv verseucht worden war.
    Zofia legte das Betonfragment in die Schatulle zurück und klappte sie zu. »Ich will zurück, Phiilip. Ich glaube, ich könnte nicht sterben, ohne zu wissen, was geschehen ist. Kommst du mit?«
    »Natürlich.«
    »Vielleicht finden wir das Silber!«
    »Vielleicht«, sagte ich.
     
    Etwa ein Jahr lang hörte ich nichts und fragte mich, ob Zofia bei näherer Überlegung sich dagegen entschieden hatte, den Deckel von all den Monstern ihrer alten Welt zu heben. Ich hielt mich im Nahen Osten auf, in Ägypten und Israel. Eines Abends holte mich ein Brief in der Altstadt von Jaffa ein:
     
    Mein lieber Philip,
    Du hast doch unsere Reise nicht vergessen, oder? Ich habe an nächsten Mai oder Juni gedacht. Ich hoffe, das paßt Dir. Was sollen wir tun, um an die Visa zu kommen   – ist die sowjetische Botschaft noch immer für Weißrußland zuständig? Sollen wir mit dem Wagen fahren? Allesagen, die Gegend sei voller Straßenräuber. Ich hoffe, es passiert uns nichts. Es wäre doch Wahnsinn, dort nach all diesen Jahren niedergemetzelt zu werden.
    Torquil, mein Dackel, ist krank. Das Wetter ist herrlich, die Bucht tieftiefblau. Schreibst Du? Ich habe ein riesengroßes langes Gedicht über »Wurzeln« angefangen.
    Viele Grüße an Dich, mein
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher