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Das Haus der Bronskis

Das Haus der Bronskis

Titel: Das Haus der Bronskis
Autoren: Philip Marsden
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lediglich begreifen lassen, wie weit weg das alles war, wie vollständig 1939 ihrer beider Leben zweigeteilt hatte.
    Sie machte sich an ihrem Uhrarmband zu schaffen, den Blick gesenkt. »Ich weiß nicht, Phiilip, ich weiß einfach nicht . . .«
    Als sie wieder aufsah, sagte sie: »Erinnerst du dich daran, was Konrad Lorenz über diese Ratten gesagt hat, wie sie, wenn eine getötet wird, die Stelle mit ihrem Urin markieren? Dann wissen die anderen, daß sie nicht dahin zurückdürfen . . . und ich bin hier   – und im Begriff zurückzugehen! Es ist Wahnsinn!« Sie ergriff ihr Glas. »Noch einen Wodka, Phiilip! Dann gehe ich ins Bett.«
    Ich stolperte über den kaum beleuchteten Flur in mein Zimmer zurück. Ich konnte nicht schlafen. Ich stellte die Flasche auf den Fenstersims und schaute hinaus. Minsk zwinkerte matt in der Nacht. Diese niedergetrampelte glücklose Stadt! Zweimal zerstört   – einmal im ersten Krieg,noch einmal im zweiten. Achtzig Prozent der Städte und Dörfer Weißrußlands waren im zweiten Krieg zerstört worden; jeder vierte Einwohner war umgekommen. Zofia war damals siebzehn; beim erstenmal war Helena siebzehn gewesen.
    Ich mußte über die Muster nachdenken, die die Lebensläufe dieser beiden quer über dieses dunkle Jahrhundert gezogen hatten. Helena war mit ihm volljährig geworden, hatte zugleich mit ihm ihre Unschuld verloren, erlebte 1917 in St. Petersburg den Beginn seines großen und glorreichen Experiments, desselben Experiments, das sie mehrmals zwang zu fliehen, um ihr Leben zu retten. Zofia und das neubegrenzte Polen wurden im selben Jahr geboren, polnische Zwillinge, und beide waren sie siebzehn, als die Grenzen zerbrachen: siebzehn, 1917, der 17.   September, die 17 auf dem fernen flatternden Großsegel der
Memory
.
    Czes ł aw Mi ł osz war zehn Jahre vor Zofia in derselben Stadt, in Wilna, zur Welt gekommen. »1914«, schrieb er einmal, »war die Manifestation aller Schwächen Europas und seines Endes . . . der ersehnte Krieg der Nationen hatte Polen als postume Schöpfung wieder zum Leben erweckt.«
    Während ich meinen Blick über die unbelebten dunklen Pfade des modernen Minsk schweifen ließ, an Helena als junges Mädchen dachte, an Zofia als junges Mädchen, an das Rußland Turgenjews und Tolstois, das Polen Mickiewiczs und Reymonts, erschien mir das eine zwingende Idee: in einem postumen Europa zu leben, einem Europa, das im Tod genau die Fehler wiederholte, die es im Leben begangen hatte.
     
    Am nächsten Morgen war es heiter; von meinem Fenster aus konnte ich auf den Stadtseen noch den Frühdunst liegen sehen. Zofia war schon auf, war schon im Frühstücksraum des Hotels, umgeben von Kaffee, Büchern und Brot, und schon im Gespräch mit einem Mann namens Wladimir.
    Wladimir war ein Riese. Er hatte dichtes schwarzes Haar und behaarte Bärenpranken. Seine Geschichte, so wie er sie erzählte, begann 1940, als ein polnisches Mädchen, ein zartes polnisches Dorfmädchen, zum erstenmal das kleine Bündel in Armen hielt, das einmal Wladimir werden sollte. Sein Vater, erzählte sie ihm, war ein russischer Offizier. Der Krieg hatte ihn in das Dorf gebracht, der Krieg hatte ihn wieder mit fortgenommen. Lange Jahre hatte Wladimir sich gefragt, wer dieser Mann war, dieses Phantom von Mann, das sein Vater war. Während seines Militärdiensts begann er mit der Suche: sie dauerte fünfzehn Jahre. »Fjunfzehn Jahrren suchen!«
    In Moskau hatte er einen gewissen Erfolg. Er spürte einen weiteren Sohn dieses Mannes auf. Anscheinend hatte Wladimir zwölf über die gesamte Sowjetunion verstreute Halbbrüder. Mittels einer Reihe von Briefen kamen sie überein, sich alle in Moskau zu treffen.
    »So, wann ich sie sehen«, erklärte Wladimir, »wann ich sie sehen auf Bahnhof, ich alle umarrmen. Zwjolfmal umarrmen! Und kommen Trränen und mir rrollen an Wangen herrunter wie Errbsen. Wie diicken grroßen Errbsen!«
    Nachher, als Wladimir seine Aktentasche in die neuen Ungewißheiten des Morgens mitgenommen hatte, sagte Zofia mißbilligend: »Mein Gott, wie diese armen Leute weinen!«
    Später fand ich sie auf ihrem Zimmer über ein Buch gebeugt; auch sie hatte geweint.
    »Die Hunde . . . Bei der Flucht, weißt du, mußten wir sie zurücklassen, wir haben sie allein gelassen . . .«
    Sie las gerade den Bericht eines verwundeten Partisanen, der sich 1940 in einer Höhle versteckt hielt. Ein zum Skelett abgemagertes Geschöpf war am Eingang der Höhle aufgetaucht, hatte dem Partisanen das
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