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Das Haus am Nonnengraben

Titel: Das Haus am Nonnengraben
Autoren: Anna Degen
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angeseh’n mit Augen, bin ich dem Tode schon anheim gegeben.« Die Gedichtzeilen sprachen unaufhörlich in ihr, pochten in ihren Schläfen. Wieso nur? Sie hatte doch das Gegenteil von Schönheit gesehen, einen besonders toten Tod.
    Da beugte sich Tanja über sie. »Da, trink das, du bist so blass.«
    Hanna nahm das kühle Glas Wasser, spülte sich den Mund aus, trank. Zeit verstrich.
    Allmählich geriet der zähe graue Brei in ihrem Kopf in Bewegung, bildete Blasen, die aufplatzten und Fragen entließen: Wer war die Tote? Wie war sie gestorben und wann? War sie ermordet worden? Wer hatte das getan? Was hatte Tanja damit zu tun? Was hatte Tanja damit zu tun? Was hatte Tanja damit zu tun?
    Hanna zwang sich, die Augen zu öffnen. Sie sah die Rosen, roch den bunten Duft des Gartens, hörte Will quieken. Tanja saß im Schatten auf der Bank neben ihr und hielt Will auf dem Schoß. Sie legte ihm ein Tuch über das Gesicht und rief: »Kuckuck!«, und Will zog es herunter, um begeistert die Welt neu zu entdecken.
    Tanja schaute von ihrem Ende der Bank zu Hanna herüber.
    »Schlimm, nicht?«, sagte sie mitleidig.
    Der Ton ihrer Stimme machte Hannas erste Frage fast schon unpassend: »Hast du etwas damit zu tun?«
    »Nein.«
    »Aber warum sitzt sie dann noch da oben? Warum hast du ihren Tod nicht gemeldet?«
    Tanjas Blick war erstaunt, fast gereizt. »Du hast wohl ’nen Clown gefrühstückt! Wer hätte mir schon geglaubt, dass nicht ich sie umgebracht habe.« Die Härte in ihrer Stimme war älter als siebzehn Jahre.
    »Sie ist also umgebracht worden. Woher weißt du das?«
    »Ich hab sie gefunden, da konnte man das noch sehen.«
    Hanna schluckte. »Und mit diesem Wissen hast du die ganze Zeit hier gelebt, unter der toten Frau, in diesem Gestank?«
    »Nein, natürlich nicht.« Tanja sah Hanna unwillig an, als zweifelte sie an deren Verstand. »Ich war nicht hier.«
    »Aber wieso …?«
    »Ich war ein paar Tage bei einer Freundin in Scheßlitz zu Besuch gewesen. Die hat mir zugesetzt, ich soll doch mit der Frau Rothammer reden, dass sie mich richtig offiziell im Haus wohnen lässt, als Hausbesorgerin oder als Gärtnerin. Mir war der Garten so ans Herz gewachsen, und vielleicht hätte sie mir ja auch ein Gehalt zahlen können. Manchmal denke ich, sie war gar nicht so arm, wie sie aussah. Und in den letzten Wochen, da hab ich gemerkt, dass sie uns manchmal beobachtet hat, wenn wir im Garten waren. Ich hab gesehen, wie sich da oben ein Vorhang bewegt hat. Und einmal lag eine Tafel Schokolade vor meiner Tür. Und grad als ich wegwollte, um zu meiner Freundin zu fahren, stand ein Gläschen mit Babynahrung bei mir auf dem Tisch. Als ich zurückkam, hab ich einen großen Blumenstrauß gepflückt und bin mit Will rauf zu ihr. Da saß sie am Küchentisch. Ihr Kopf hing so komisch verdreht nach hinten, und ihr Gesicht war ganz blau. Ihr Hals sah schrecklich aus.« Tanja drückte Will an sich und schmiegte ihre Wange an sein Köpfchen. »Es war plötzlich so entsetzlich still im Haus, aber zuerst hab ich mich noch nicht gefürchtet, komisch, das kam erst später. Ich hab meine Blumen vor sie auf den Tisch gelegt.« Will maunzte leise, und Tanja lockerte ihren Griff. »Dann bin ich runter zu mir und hab alles, was in den Kinderwagen gepasst hat, zusammengepackt und bin in unser Gartenhaus. Es waren ja Ferien, und da ist Tante Doris sowieso meistens weg. Das war vor ungefähr drei Wochen. Ich hab immer wieder überlegt, was ich tun soll. Wenn ich zur Polizei gegangen wär, die hätten mich doch sofort eingesperrt und Will in ein Heim gesteckt. Das hätte ich nicht ausgehalten.«
    Das klang alles recht plausibel. »Und zu welchem Entschluss bist du gekommen?«
    »Keine Ahnung. Zu gar keinem eigentlich. Ich hab halt gewartet. Aber gestern hab ich Tante Doris im Bus gesehen. Das war so ätzend, und da hab ich gedacht, ich schau mal nach, was hier im Haus los ist. Ich hatte ja noch meinen Schlüssel für die Gartentür.«
    »Woher hattest du den denn?«
    »Ach, der hing im Gang neben der hinteren Tür, und ich hab ihn halt mitgenommen. Und als ich rauf gegangen bin zu Frau Rothammer, da saß sie immer noch am Küchentisch. Ich hab geglaubt, ich krieg die Krise. Da hab ich mich hingesetzt und erst mal Will die Brust gegeben und überlegt, was ich jetzt tun könnte. Und dann kamst du.« Tanja sah Hanna flehentlich an. »Bitte, bitte, ruf nicht die Polizei!«
    »Aber ich muss die Polizei anrufen. Ich muss einen Mord doch melden.«
    »Dann lass
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