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Das Haus am Nonnengraben

Titel: Das Haus am Nonnengraben
Autoren: Anna Degen
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mich wenigstens vorher verschwinden. Ich geh einfach, und du hast mich nie gesehen, okay?«
    Hanna zögerte.
    »Bitte, Hanna, die nehmen mir Will weg. Bitte!«
    Hanna versuchte, das Mädchen mit den grünen Haaren, das so gut im »Organisieren« war, mit den Augen eines Polizisten zu sehen. Die Geschichte war so abstrus, dass man ihr bestimmt nicht glauben würde. Und sie selbst? Hanna wurde klar, dass sie Tanja mochte. Und dass sie ihr glaubte. Es gab natürlich einiges, was gegen sie sprach: Sie hatte die Gelegenheit gehabt und womöglich auch ein plausibles Motiv. Vielleicht hatte die alte Frau sie an die Luft setzen wollen, und in ihrer Not hatte Tanja … Nein, Hanna konnte sich das Mädchen nicht als Mörderin vorstellen. Hände, die so sorgfältig und liebevoll mit einem Kind und mit Blumen umgingen, waren nicht in der Lage, den Hals einer alten Frau so lange zuzudrücken, bis sie tot war.
    Wie immer in schwierigen Situationen meldete sich Hannas Widerspruchsgeist, den sie Anna diabolica nannte, zu Wort, um mit ihr ein Streitgespräch anzufangen. Sie kam offenbar allmählich wieder zu sich. »Ach, die zarten Händchen«, seufzte Anna diabolica.
    »Und Hitler liebte Schäferhunde.« – »Halt doch die Klappe! Sie ist einfach nicht der Typ einer Mörderin.« – »Und wie viele Exemplare des Typs Mörderin belieben gnädige Frau zu kennen?« – »Ich glaub ihr, basta, und ich werde ihr helfen.« – »Du bist wohl nicht ganz bei Trost. Du willst dir ein Kind mit einem Kind aufhalsen? Eine Diebin und potenzielle Mörderin, die von der Polizei gesucht wird? Weißt du eigentlich, was du tust?« – »Ja, jetzt weiß ich es. Ich werde Tante Kunigunde anrufen!«
    Tante Kunigunde war die Schwester ihres Vaters, Witwe, redselig und resolut, mit jeder Menge Humor und Neugier begabt und das patenteste Weib, das Hanna kannte. Sie war nicht nur im Besitz eines großen Herzens, sondern auch eines Hauses mit zwei leeren Zimmern. Die Kombination dieser Eigenschaften ließ sie in der gegebenen Situation als absolutes Ideal erscheinen. Bei ihr würde sie Tanja unterbringen. Dann würde sie den Mord melden. Niemand konnte sie zwingen, von Tanja zu erzählen.
    Aber wollte sie wirklich so viel Verantwortung auf sich nehmen? Sie schaute in Tanjas müdes, zögerlich vertrauensvolles Gesicht und sah ihren Blick, in dem im Hintergrund die Befürchtung stand: »Ich weiß schon, du lässt mich bestimmt auch im Stich.«
    Das entschied es. Sie würde versuchen, ihr zu helfen.
    »Okay, Tanja, wenn es geht, werde ich der Polizei nichts von dir sagen.« Tanja fiel ihr um den Hals und drückte sie so fest, dass ihr fast die Luft wegblieb. »Ich will mal schauen, ob ich für euch beide eine Unterkunft finde, jedenfalls für ein paar Tage. Dann sehen wir weiter.«
    Sie wies Tanja an, alles zusammenzupacken, was einen Hinweis auf sie geben könnte, und mit ihrem Gepäck an der hinteren kleinen Gartentür, die zum Fußweg am Nonnengraben führte, auf sie zu warten, bis sie vom Telefonieren zurückkam. Warum hatte sie nur ihr Handy wieder nicht dabei? Hanna rannte um die Ecke zur Telefonzelle im Studentenheim bei den Oberen Mühlen. Sie hatte Glück. Tante Kunigunde war zu Hause.
    »Grüß dich, Tante Kunigunde. Sitzt du?«
    »Du guter Gott, was ist denn jetzt schon wieder passiert? Ist es schlimm?«
    »Das weiß ich noch nicht. Ich habe eine tote Frau gefunden.«
    »Was? Wo?«
    »Im Haus am Nonnengraben.«
    »Ach! Hast du schon die Polizei gerufen?«
    »Das ist nicht das Problem. Das Problem ist, dass in dem Haus ein junges Mädchen untergeschlüpft ist, die jetzt dort weg muss und nicht weiß, wohin. Sie ist ganz verzweifelt, und ich wollte dich fragen, ob du sie vielleicht für ein, zwei Tage bei dir aufnehmen könntest, bis sie etwas anderes gefunden hat.«
    »Hör mal, das klingt aber alles sehr merkwürdig.«
    »Vertrau mir einfach. Ich erkläre es dir später. Bitte. Du kennst mich doch.«
    »Eben!«, sagte Tante Kunigunde.
    Hanna nahm das als Zustimmung und schickte mehrere dicke Küsse durchs Telefon, so dick und schwer wie der Stein, der ihr vom Herzen gefallen war. Bevor sie auflegte, sagte sie noch schnell: »Übrigens, das Mädchen hat ein Baby.« Tante Kunigundes Kommentar hörte sie nicht mehr.
    Auf dem Rückweg zum Gartentürchen nahm Hanna ihr Fahrrad mit, das sie vor dem Haus geparkt hatte. Tanja und sie beluden es mit allem, was in und auf dem Kinderwagen keinen Platz mehr fand. »Sperr die Tür ab und nimm den Schlüssel
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