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Das Haus am Nonnengraben

Titel: Das Haus am Nonnengraben
Autoren: Anna Degen
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ins Schwarze!‹ Damals wusste noch niemand, dass Karla schwanger war, auch ich nicht. Aber sie hat es gewusst, auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, wie sie es rausgekriegt hat. Ich verstand also nur die Hälfte ihrer Andeutung. Ich hörte nur, dass sie mich bewunderte und für einen tollen Liebhaber hielt, im Gegensatz zu Arthur, der es nicht ›so brächte‹, wie sie das ausdrückte. Elfi war eine sehr schöne, sehr sinnliche Frau. Und ein junger Mann in meiner Situation … ich ging mit ihr in eine der leeren Mädchenkammern. Das war das Ende meines Glücks.«
    »Wieso, was ist passiert?«
    »Ich konnte natürlich nicht. Ich hatte das Gefühl, als würde Karla mir zusehen, mir über die Schulter schauen. Elfi verhöhnte mich, nannte mich einen ›Schlappschwanz und Versager‹. Das hätte ich ertragen können. Aber bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit erzählte sie es Karla, in meinem Beisein. Karla drehte sich zu mir um, sah mich mit großen, fast verwunderten Augen an und sagte, ganz leise, nur ein Wort: ›Geh!‹ Ich hatte keine Möglichkeit, mich zu verteidigen. Ich ging die Treppe hinunter und hoffte auf jeder Stufe, sie würde mich zurückrufen. Dann fiel die Haustür ins Schloss, und ich stand draußen. Es war früh Winter geworden in jenem Jahr. Schnee fiel, und ich stand da und sah durch die immer dichter wirbelnden Flocken zu den erleuchteten Fenstern hinauf. Diese Nacht und noch viele Nächte stand ich auf der anderen Straßenseite, dort, wo es zum Kanal hinuntergeht, hinter der Brückenrampe, damit man mich nicht sehen konnte, und starrte zu den hellen Fenstern, in der Hoffnung, dass ein Schatten vorbeiglitt, der vielleicht Karla war. Ich stand da, bis ich eine Lungenentzündung bekam. Ich wäre so gern gestorben. Aber ich starb nicht. Dass man für einen Fehler, einen unbedeutenden Fehler, so lange und so schrecklich büßen muss. In jenen Nächten wusste ich, wie sich Adam und Eva bei der Vertreibung aus dem Paradies gefühlt haben müssen. Noch heute sehe ich mich in vielen schlaflosen Nächten dort neben der Brücke stehen, in der Kälte, seh die hellen Fenster und die verschlossene Tür. Die hellen Fenster …« Der alte Mann legte den Kopf in die Hände. Er weinte.
    »Haben Sie ihr denn nicht geschrieben?«, fragte Benno.
    »Natürlich, oft. Aber alle meine Briefe kamen ungeöffnet zurück.« Die Hände wanderten ziellos über den Tisch, als suchten sie den verlorenen Faden der Erzählung. »Im folgenden Mai kam unser Sohn zur Welt. Karla war in jenem Winter von zu Hause fortgegangen, nach München. Ich fand heraus, in welcher Klinik sie entbunden hatte. Von Klinik zu Klinik bin ich gelaufen und habe gefragt. Damals wurde alles noch viel strenger gehandhabt; die Kinder waren nicht bei ihren Müttern, sondern auf Säuglingsstationen. Die hatten eine große Scheibe, und davor standen die Väter und bekamen durch das Glas ihre Babys gezeigt. So sah ich meinen Sohn, so ein kleines verhutzeltes Gesicht und zwei winzige rote Fäustchen in viel weißem Stoff. Ich weinte und dachte: ›Das ist mein Sohn, mein Sohn, der einmal das Haus am Nonnengraben erben wird.‹ Bei den Rothammers erbt nämlich immer der älteste Sohn einer Generation das Haus am Nonnengraben. Ich habe ihn nur dieses eine Mal gesehen, meinen Sohn, nur dieses eine Mal. Drei Wochen später starb Arthur – sie hatte ihn nach ihrem Bruder genannt, nicht nach mir –, und sein Grab …« Der alte Mann schluckte schwer. »Dort liegt nun auch Karla. Ich bin jetzt also der nächste lebende Verwandte dieses Kindes, und damit gehört das Haus am Nonnengraben mir. Das stimmt doch, oder?«
    Seine geschlossenen Fäuste hoben sich aus den Handgelenken und klopften auf den Tisch. »Das stimmt doch!«
    Benno fragte statt einer Antwort: »Und wie ging es weiter?«
    »Ich habe mein Studium beendet und eine Frau geheiratet, die meine Mutter für mich ausgewählt hatte. Sie war gut katholisch, das war meiner Familie wichtig. Wir bekamen keine Kinder. Irgendwann ließ ich mich an ein Gymnasium nach München versetzen. Karla und ich haben uns verschiedentlich getroffen, auf Tagungen und Seminaren. Sie hat wieder mit mir gesprochen. In ihrer Nähe ging es mir fast gut. Ich hatte inzwischen angefangen, Häuser zu kaufen. Ich hatte mehrere Häuser in Bamberg geerbt – beim Erben hatte ich Glück, irgendwo muss der Mensch ja auch Glück haben –, und ich war, zu meinem eigenen Erstaunen, ziemlich begabt für den Immobilienhandel. Ich sammelte
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