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Das gruene Gewissen

Das gruene Gewissen

Titel: Das gruene Gewissen
Autoren: Andreas Moeller
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zugrunde wieder Geschichte: dass sich die dialektischen Gesetze durchsetzten, die auch in der Geschichte die scheinbare Zufälligkeit der Ereignisse beherrschten. Oder anders gesagt: Wir verstehen die Geschichte, lernen aus ihr und handeln in Zukunft richtig.
    In unserem Klassenzimmer für Heimatkunde und Geschichte hatten ältere Schüler im Rahmen eines Arbeitseinsatzes einen Zeitstrahl mit Piktogrammen über die gesamte Länge an die Wand gemalt. Der Strahl ordnete jeder Epoche eine Farbe zu, die langsam und nie abrupt in die nächste überging. Er begann in der Steinzeit mit angedeuteten Höhlenmenschen, wie sie jeder DDR-Jugendliche aus dem Buch Weltall, Erde, Mensch kannte, ging über die Jäger, Ackerbauern und Viehzüchter in einem weiten Bogen über den Beginn der neuen Zeitrechnung nach Christi Geburt zum Feudalismus und der kapitalistischen Industriegesellschaft mit ihren Produktionsmitteln bis hin zur sozialistischen Produktion der achtziger Jahre. Von dort aus setzte sich der Strahl in derselben Farbe bis in das Jahr 2000 fort und endete mit dem Abschluss der Wand, was zu Fragen führte, mit welcher Gewissheit dieser Verlauf der Geschichte mit dem Endpunkt Kommunismus vorhersehbar sei. Mit der einzig gültigen, lautete die Antwort: der wissenschaftlichen. Es war der Brustton der wissenschaftlich-technischen Revolution, der selbst kurz vor der Wende noch regierte.
    Nach 1989 ist viel darüber geschrieben worden, weshalb sich in Ostdeutschland eine bildungskonservativ geprägte Schicht halten konnte, welche die deutschen Klassiker nicht nur ungebrochen rezipieren durfte, sondern diese bewusst als eine Art Widerstandsliteratur gegen den vorgeschriebenen proletarischen Realismus vereinnahmte; eine Schicht, wie man sie stilisiert aus Uwe Tellkamps Dresden-Roman Der Turm kennt. Doch die Klassiker, die sich nur über Umwege in ein sozialistisches Deutungsschema pressen ließen, bildeten vielleicht einen privaten Rückzugspunkt. Die Natur- und Technikwissenschaften waren die eigentliche „unpolitische“ Nische.
    Die politischen Eliten aus der ehemaligen DDR hatten, wenn sie nicht über die Kirchen und Bürgerbewegungen in der Wendezeit zur Politik gekommen waren, nicht zufällig einen naturwissenschaftlichen, medizinischen oder technischen Hintergrund: namentlich Angela Merkel, die Physik in Leipzig studierte, Wolfgang Böhmer, der als Chefarzt arbeitete, sein Vorgänger Reinhard Höppner, ein promovierter Mathematiker, Matthias Platzeck, ein Kybernetiker der TU Ilmenau, Dieter Althaus, Absolvent eines Physik- und Mathematikstudiums, Stanislaw Tillich, ein Ingenieur der TU Dresden, Harald Ringstorff, ein Rostocker Chemiker, die verstorbene Regine Hildebrandt, eine Biologin der Humboldt-Universität, der Unionspolitiker Arnold Vaatz, ein Mathematiker aus Sachsen. Dergleichen gibt es in dieser Häufung in der alten Bonner Republik nicht, wo in der politischen Landschaft juristische, geistes- und sozialwissenschaftliche Abschlüsse dominierten.
    Anders als in der alten Bundesrepublik wurden die Technikwissenschaften in der DDR zwar auch auf Grundlage des Historischen Materialismus sowie einer anders gearteten akademischen Elitentradition als ebenbürtig mit den anderen Wissenschaften angesehen, was sich nicht zuletzt in der Gründung einer technikwissenschaftlichen Klasse in der ehemaligen Akademie der Wissenschaften widerspiegelt. Die Beschäftigung mit den vermeintlich objektiven und unpolitischen Geschwistern Natur und Technik war aber immer auch ein Weg, sich dem Einfluss des Staates auf die Gesellschaftswissenschaften zu entziehen.
Das grüne Gewissen als gesamtdeutsche Identität nach 1989
    Im Nachhinein ist die Botschaft unseres Klassenzimmers kaum mehr als eine Fußnote der Geschichte geblieben, denn der Glaube an ein historisches „Endziel“ war bereits damals brüchig. Gerade die Naturschutzbewegung hatte bereits seit mehr als einhundertJahren als heilsames Korrektiv eines blinden Wissenschafts- und Technikglaubens gewirkt, der seit der Taufe des Deutschen Reiches im 19. Jahrhunderts vorgeherrscht hatte.
    Was man im Ausland heute achtungsvoll „German Engineering“ nennt, umschreibt jenen Positivismus, der Maß und Ziel bisweilen aus den Augen verlor, weil er die Fortschrittserwartung einer Nation einseitig an den wissenschaftlich-technischen Fortschrittsbegriff heftete. Gerade weil es den Hang zur Technik und den sprichwörtlichen deutschen Perfektionismus gab und gibt, die zu einem
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