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Das gruene Gewissen

Das gruene Gewissen

Titel: Das gruene Gewissen
Autoren: Andreas Moeller
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Experimentalwissenschaft sprach, verteidigte man in Deutschland die Naturanschauung und den Formenreichtum der Tier- und Pflanzenwelt als Ausdruck einer göttlichen Ordnung gegen die moderne Theoriebildung, zumindest solange es ging. Dahinter stand vor allem die Ideenwelt Goethes, die im Humboldt’schen Universalkosmos eine Fortsetzung fand.
    Bereits Emil Du Bois-Reymond, der ein halbes Jahrhundert nach Goethes Ableben Rektor der Berliner Universität war, machte dabei eine unerfreuliche Verflechtung von Goethe-Kult und deutschem Geist aus: In einer Zeit, in der man in Frankreich und England eine neue mathematische Naturwissenschaft schuf, so resümierte er vor Professoren und Studenten in einer Rede mit dem vielsagenden Titel Goethe und kein Ende , war die Physik in Deutschland Gegenstand spöttischer Herabsetzung. 29 So wie man die Quelle der deutschen Naturbegeisterung gemeinhin in derRomantik verortet, ist es darum nicht übertrieben, in Goethes Gestaltlehre eine Quelle der Vorstellungen von Ganzheit zu sehen, die später insbesondere im Nationalsozialismus zu einer diffusen Wendung gegen den „Relativismus“, „Individualismus“ und „Atomismus“ der Zeit werden sollten. Die Sehnsucht nach Ganzheit war der manifeste Einspruch gegen eine vermeintlich „zerfallende“, weil komplexe Welt. Seit dieser Zeit gibt es in Deutschland eine besondere Affinität zu Ganzheits-Diskursen.
    Später war es Friedrich Nietzsche, der den Zerfall der Wissenschaften zu Einzeldisziplinen beklagte, und es waren Dichter wie Hugo von Hofmannsthal, der diesen Weltzerfall in seinem berühmten Lord-Chandos-Brief zur vielzitierten Sprachskepsis am Beginn des 20. Jahrhunderts machte. Der Relativismus der Zeit war allgegenwärtig und wurde in den schönsten Sätzen als Unfähigkeit ausgedrückt, die Welt noch angemessen beschreiben zu können.
    Konservative Intellektuelle von Oswald Spengler bis Gottfried Benn haben sich schließlich mit der technischen Dynamisierung des Lebens auseinandergesetzt. Dabei waren sie über ihr eigenes Werk hinaus Adepten eines rationalismuskritischen, antimechanistischen Denkens, das sie vor allem in Goethes Synthese aus Dichtung und Natur-Anschauung verkörpert sahen.
    Ein deutscher Wesenszug ist daher auch in jenem vitalistischen, auf den Organismus und „das Leben“ bezogenen Reflex zu sehen, der die Geschichte der Natur von Anfang an begleitet hat. Nietzsche hatte die Vernunft und den Fortschrittsglauben als etwas „Lebensfeindliches“ dargestellt und späteren Nachahmern die Feder geführt. Der Geist als Widersacher der Seele , so des Lebensphilosophen Ludwig Klages’ einflussreiches Werk aus dem Jahr 1918, steht exemplarisch für eine auch in der NS-Propaganda strapazierte Wesensart und ganzheitlich schauende Natur-Auffassung, die über die Vernunft hinausgeht. Das Formelhafte, Mathematische, Mechanistische, ja „Atomisierende“ hingegen war immer Merkmal des angelsächsischen Denkens – es war Newton, nicht Goethe.
    Ein Credo der rationalismuskritischen späten zwanziger Jahre lautete entsprechend, dass Goethe dort beginne, wo die Physik ende. Es ging zurück auf den Anthroposophen Rudolf Steiner, den Vater der Waldorfschulen. Nicht nur Laien, sondern auch Größen der deutschen Wissenschaft, die vor und nach dem Ersten Weltkrieg der Schmelztiegel des internationalen Wissenschaftsbetriebs war und so viele Nobelpreisträger wie kein anderes Land hervorbrachte, würden sich ihm in den kommenden Jahren anschließen: Goethe stellte in den dreißiger Jahren einen Gemeinplatz dar, den es mitzubesetzen galt. 30
    In das Fahrwasser einer allgemeinen Modernekritik im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts stieß zudem ein folgenreicher Wechsel im wissenschaftlichen Grundverständnis der Natur, der in Deutschland seinen Ausgangspunkt nahm: der Weltbildwandel der Physik. Am Ende des 19. Jahrhunderts hatte keine andere Naturwissenschaft in ihren Grundlagen als unumstößlicher gegolten als die klassische Physik. Die Newtonsche Mechanik definierte Raum und Zeit als absolute Koordinaten – Eigenschaften, die sich bereits im historischen Ausspruch von Leibniz wiederfinden, die Natur mache keine Sprünge. Mit diesem deterministischen Naturbild brachen die Relativitäts- und vor allem die Quantentheorie fundamental. Sie brachten die Vorstellung einer – und darauf kommt es hier an – vom Menschen unabhängig zu denkenden Natur zum Einsturz. Die Physik verabschiedete sich von einer strengen Objektivität
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