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Der letzte Tiger

Der letzte Tiger

Titel: Der letzte Tiger
Autoren: Nora Luttmer
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Es war Ende Oktober, und die Monsunzeit hätte längst zu Ende sein sollen. Doch es regnete stärker als die ganzen Wochen zuvor. Nach über einer Woche Dauerregen stand das Wasser teilweise mehr als einen Meter hoch in Hanois Straßen. 58 Menschen waren bislang ums Leben gekommen. Die meisten waren ertrunken oder infolge defekter Stromleitungen getötet worden. Misstrauisch betrachtete Kommissar Pham Van Ly die dicken Bündel schwarzer Kabel, die dicht über seinem Kopf über dem Gehweg hingen. Die Hosenbeine hochgekrempelt, watete er durch das grauschwarze Wasser. Hier in der Altstadt, die etwas höher lag als die übrigen Stadtteile, reichte es ihm nur bis zu den Knien. Trotz des Regens war es warm, und Kinder tobten mit Styroporplatten durchs Wasser. Die Nichtschwimmer unter ihnen hatten leere Plastikflaschen um Bauch und Arme gebunden. Ly sah, wie sie lachten, hörte sie aber nicht. Zu laut war der Regen. Sein dünnes Plastikcape klebte unangenehm an seinem Körper. Mit zusammengekniffenen Augen und gebeugtem Rücken kämpfte er sich bis zur Lan-Ong-Gasse durch.
    Erst vor wenigen Wochen war der Arzt Doktor Song aus seinem winzigen Praxiskabuff in einem Hinterhof der Thuoc-Bac-Gasse, der »Gasse der Nördlichen Medizin«, in dieses zur Straße hin gelegene Ladengeschäft in der Lan-Ong gezogen. Er war einer der Letzten gewesen, der sich von den Schlossern aus der »Gasse der NördlichenMedizin« hierher hatte verdrängen lassen. Doch da in der Altstadt das Prinzip »eine Gasse – eine Ware« galt, musste er dahin übersiedeln, wo nunmehr alle seine Kollegen praktizierten.
    Doktor Song hatte die Ladengitter aufgezogen. Gestapelte Sandsäcke schützten vor dem Hochwasser. Ly stieg über die Barrikade.
    »Ah, Kommissar«, rief Doktor Song und kam mit ausgebreiteten Armen hinter dem langen Tresen hervor. Mit seinen Anfang vierzig war er etwas jünger als Ly. Er lächelte. Feine Falten legten sich um seine Mundwinkel. Er hatte weiche, fast feminine Gesichtszüge.
    Ly zog das Regencape aus und sah sich um. »Schicker Laden«, sagte er.
    Apothekerschränke aus dunkel lackiertem Holz standen vor beiden Längswänden. An Schnüren unter der Decke hingen getrocknete Geckos und Wurzeln. Auf dem Boden standen Kisten mit tellergroßen linh chi- Pilzen und Ginsengwurzeln, Eimer mit Baumrinden und anderen für Ly undefinierbaren Heilpflanzen. Obwohl der Laden um ein Vielfaches größer war als der alte, war er schon genauso vollgepackt und hatte denselben vertrauten Geruch nach Pilzen, Zimt, Anis und abgebrannten Räucherstäbchen. Ly fand das beruhigend.
    »Die Geschäfte laufen gut«, sagte Doktor Song mit einem Lächeln und goss zwei Tassen Artischockentee für Ly und sich ein. Er murmelte ein moi uong – »Lade zum Trinken« – und fragte, wie er Ly helfen könne.
    »Meine Mutter – ihr Rheuma macht ihr wieder zu schaffen«, sagte Ly.
    »Kein Wunder. Bei diesem Wetter.«
    »Sie braucht etwas gegen die Schmerzen.«
    »Es wird ja nicht besser mit Ihrer Mutter«, sagte der Arzt. »Sie sollten wirklich mal über Tigerknochenpaste nachdenken. Die würde nicht nur gegen die Schmerzen helfen, sondern auch die Krankheit etwas ausbremsen.«
    Ly konnte sich nicht vorstellen, wie Paste aus eingekochten Tigerknochen helfen sollte. Aber es war ein uraltes Rezept, und Ly vertraute auf seinen Arzt. Er hatte viele Jahre Erfahrung. Ly erinnerte sich, dass er schon als ganz junger Mann in der Praxis seines Vaters, des alten Doktor Hung, mitgearbeitet hatte, bevor er sie dann nach dessen Tod übernommen hatte.
    »Was kostet die Paste?«, fragte Ly.
    »Leider.« Doktor Song gab einen langgezogenen Seufzer von sich. »Sie ist verboten. Ein echtes Problem für unsere Medizin. Es sind ja nicht nur die Tiger. Wir dürfen kaum noch Tiere verarbeiten. Auch Bären, Warane und Königskobras, sogar Seepferdchen stehen unter Schutz. Als ob die Gesundheit der Menschen nicht vorgeht.« Er hob resigniert die Arme.
    »Aber Sie können die Paste doch sicher besorgen?« Sie wäre teuer, das war es doch, worauf er letztendlich hinauswollte, dachte Ly.
    Der Arzt presste die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf.
    »Aber bitte«, sagte Ly. »Sie haben es selbst vorgeschlagen.« Es ging ihm um die Gesundheit seiner Mutter, nicht um irgendwelche Tierschutzgesetze. »Ich bin bei der Mordkommission, nicht bei der Umweltpolizei.« Lykonnte nicht ganz verbergen, dass dieses Gespräch ihn zu nerven begann.
    Der Arzt sah Ly eine Weile schweigend an und wiegte
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