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Das große Haus (German Edition)

Das große Haus (German Edition)

Titel: Das große Haus (German Edition)
Autoren: Nicole Krauss
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brauchten es nicht zu wissen. Ein besonderes Band entwickelte sich zwischen ihnen, meiner einzigen Tochter und meinem einzigen Sohn. Während sie schliefen, stellte ich die Möbel um. Ich lehrte sie, niemandem zu trauen außer sich selbst. Ich lehrte sie, sich nicht zu fürchten, wenn der Stuhl beim Einschlafen an einer Stelle stand und beim Aufwachen an einer anderen. Ich lehrte sie, dass es nicht darauf ankommt, wo man seinen Tisch aufstellt oder an welche Wand man das Bett schiebt, solange man die Koffer immer oben auf dem Schrank verstaut. Ich lehrte sie zu sagen: Wir sind morgen wieder weg, genauso wie mein Vater, der Geschichtsforscher, mich gelehrt hatte, dass die Abwesenheit der Dinge nützlicher sei als ihre Anwesenheit. Obwohl ich viele Jahre später, als er schon ein halbes Jahrhundert tot war, auf einer Mole am Meer stand, die Unterströmung betrachtete und dachte: Nützlich wofür?
     
    Vor Jahren, als ich noch neu im Geschäft war, bekam ich einen Anruf von einem alten Mann. Er wollte meine Dienste in Anspruch nehmen und berief sich auf den Namen eines gemeinsamen Bekannten, der mich empfohlen hatte. Er sagte mir, er reise nicht mehr; genau genommen verlasse er kaum noch das Zimmer am Rand der Wüste, in dem er wohne. Es ergab sich, dass ich wegen einer anderen Sache sowieso in die Nähe seiner Stadt musste, und so sagte ich ihm, ich käme, um ihn persönlich zu treffen. Wir tranken einen Kaffee. Sein Zimmer hatte ein Fenster, und auf dem Fußboden darunter war, infolge jahrelanger Vergesslichkeit beim Schließen, wenn es regnete, ein dunkler Halbmond. Der Mann sah mich den Flecken betrachten. Ich habe nicht immer so gelebt, sagte er. Ich habe lange ein anderes Leben geführt, in anderen Ländern. Ich habe viele Menschen kennengelernt und herausgefunden, dass jeder seine eigene Art hat, die Realität zu bewältigen. Der eine kann sich mit dem Regenflecken auf dem Fußboden nur versöhnen, indem er ihn entfernt, sagte er. Und für den anderen liegt der Schlüssel zur Versöhnung im Widerspruch des Fleckens im Zimmer seines Hauses am Rand der Wüste selbst. Ich nickte und trank meinen Kaffee. Aber ich hatte nur verstanden, dass seine Wehmut einem Flecken auf dem Fußboden galt, der vom Regen in einer Stadt, in der er seit Jahren nicht gewesen war, herrührte.
     
    Mein Vater starb vor fünfzig Jahren auf einem Todesmarsch ins Reich. Jetzt sitze ich in seinem Arbeitszimmer in Jerusalem, einer Stadt, von der er nur träumen konnte. Sein Schreibtisch steht eingeschlossen in einem New Yorker Lagerraum, und meine Tochter hat den Schlüssel. Ich gebe zu, das hatte ich nicht vorhergesehen. Ich hatte ihren Mut und Willen unterschätzt. Ihre Gerissenheit. Sie glaubte sich mir zu verweigern. In ihren Augen sah ich eine Härte, die ich noch nie gesehen hatte. Sie war in Angst und Schrecken, aber ihr Entschluss stand fest. Ich brauchte eine Weile, aber dann dämmerte es mir. Ein besseres Ende hätte ich nicht erfinden können. Sie hatte mir eine Lösung geliefert, obwohl es nicht die war, die wir jeweils beabsichtigt hatten.
    Der Rest war einfach. Ich flog nach New York. Am Flughafen nahm ich ein Taxi zu der Adresse, zu der ich meine Tochter geschickt hatte, um den Tisch zurückzuholen. Ich sprach mit dem Hausmeister. Er war Rumäne, und ich wusste, wie ich mich ihm verständlich machen konnte. Ich bot ihm fünfzig Dollar, um seiner Erinnerung an den Namen des Umzugsunternehmens, das den Tisch abgeholt hatte, auf die Sprünge zu helfen. Er fiel ihm nicht ein. Ich bot ihm hundert, aber sein Gedächtnis blieb leer. Für zweihundert Dollar kehrte die Erinnerung mit verblüffender Klarheit zurück; er suchte mir sogar die Telefonnummer heraus. Von seinem schäbigen kleinen Büro im Untergeschoss aus, wo seine Straßenkleidung an einem Rohr hing, führte ich das Telefonat. Ich wurde zum Geschäftsführer durchgestellt. Und ob ich mich erinnere, sagte er. Die Dame hatte von einem Tisch gesprochen, ich habe zwei Männer hingeschickt, und sie hätten sich fast das Rückgrat gebrochen. Ich sagte ihm, ich wüsste gern, wohin ich das wohlverdiente Trinkgeld schicken könne. Der Geschäftsführer gab mir seinen Namen und seine Adresse. Dann gab er mir die Adresse des Lagerhauses, bei dem seine Männer den Tisch abgeliefert hatten. Der Rumäne hielt ein Taxi für mich an. Die Mieterin, der dieser Tisch gehörte, sagte er, ist übrigens verreist. Ich weiß, sagte ich. Woher wissen Sie das? Sie war bei mir, sagte ich, dann fuhr der
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