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Das große Haus (German Edition)

Das große Haus (German Edition)

Titel: Das große Haus (German Edition)
Autoren: Nicole Krauss
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Der sich auf Unwissenheit einschwor und erstickte, was im Inneren wühlte, damit alles so weiterging, wie es immer gewesen war. Damit das Haus vor Überschwemmung und die Wände vor dem Einsturz bewahrt wurden. Damit wir nicht von dem durchdrungen, zermalmt oder überwältigt wurden, was in dem Schweigen hauste, um das herum wir uns so zartfühlend, so scharfsinnig ein Leben aufgebaut hatten.
    Ich saß viele lange Stunden dort, bis in die Nacht hinein. Das Feuer brannte nieder. Der Preis, den wir für unsere im Dunkeln erstickten Wesenstiefen bezahlten. Schließlich, kurz vor Mitternacht, nahm ich den gefalteten Zettel vom Tisch. Ohne zu zögern, warf ich ihn in die Glut. Er sengte an und ging in Flammen auf, einen Moment brüllte das neubelebte Feuer, und im Nu hatte er sich verzehrt.

Weisz
    Ein Rätsel: An einem Winterabend des Jahres 1944 wird in Budapest ein Stein geworfen. Er fliegt durch die Luft zum erleuchteten Fenster eines Hauses hinauf, in dem ein Vater am Schreibtisch arbeitet, eine Mutter liest und ein Junge mit offenen Augen von einem Schlittschuhrennen auf der gefrorenen Donau träumt. Die Scheibe zersplittert, der Junge hält sich die Hände über den Kopf, die Mutter schreit. In diesem Moment hört das Leben, das sie kennen, auf. Wo landet der Stein?
     
    Als ich Ungarn 1949 verließ, war ich einundzwanzig. Ich war dünn, ein halb ausgelöschter Mensch, fürchtete mich, still zu stehen. Auf dem Schwarzmarkt tauschte ich einen goldenen Ring, den ich an einem toten Soldaten gefunden hatte, gegen zwei Kisten Wurst, die beiden Kisten gegen zwanzig Ampullen Medizin und die zwanzig Ampullen gegen hundertfünfzig Päckchen Seidenstrümpfe. Diese verschickte ich mit anderen Luxusgütern in einem Schiffskoffer, dessen Inhalt die Grundlage meines neuen Leben abgeben sollte, das mich am Hafen von Haifa erwartete, gleich einem Schatten, der sich mittags unter einem Felsen verkriecht. In dem Koffer befanden sich, zusammengefaltet zwischen den anderen Gegenständen, fünf Seidenhemden, die mir wie eine zweite Haut auf den Leib geschneidert waren, mit dem Monogramm meiner Initialen auf der Brusttasche. Ich kam an, aber nicht der Koffer. Der Türke vom Zoll, der unten vor dem Karmel stand, behauptete, es sei nichts dergleichen registriert. Hinter mir dümpelten die Schiffe auf den Meereswogen. Ein schmaler Schatten schlüpfte unter einem Felsen neben dem riesigen rechten Fuß des Türken hervor. Eine Frau in einem dünnen Kleid lag vorgebeugt auf den Knien und küsste weinend die verbrannte Erde. Vielleicht hatte sie ihren eigenen Schatten unter einem anderen Stein gefunden. Ich sah etwas Glitzerndes im Sand und hob eine halbe Lira auf. Eine halbe kann eine ganze, und aus einer können zwei, aus zweien können vier werden. Sechs Monate später klingelte ich an der Haustür eines Mannes. Der Mann hatte seinen Cousin eingeladen, und sein Cousin, mein Freund, hatte mich mitgenommen. Der Mann, der die Tür öffnete, trug ein Seidenhemd, und auf der Brusttasche waren meine eingestickten Initialen. Seine junge Frau brachte ein Tablett mit Kaffee und Halva. Als der Mann den Arm ausstreckte, um mir Feuer zu geben, streifte die Seide seines Ärmels meinen Arm, und wir waren wie zwei Menschen, die jeder von seiner Seite gegen eine Fensterscheibe drücken.
     
    Mein Vater war Gelehrter der jüdischen Geschichte. Er schrieb an einem riesigen Tisch mit vielen Schubladen, und als ich klein war, glaubte ich, in diesen Schubladen lägen zweitausend Jahre aufbewahrt, genau wie Magda, die Haushälterin, Mehl und Zucker in der Speisekammer aufbewahrte. Nur eine der Schubladen hatte ein Schloss, und zu meinem vierten Geburtstag schenkte mein Vater mir den kleinen Messingschlüssel. Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen, so angestrengt überlegte ich, was ich in die Schublade tun könnte. Die Verantwortung war erdrückend. Wieder und wieder ließ ich meine liebsten Sachen Revue passieren, aber plötzlich kamen sie mir alle wertlos und schrecklich unwichtig vor. Am Ende verschloss ich die leere Schublade, traute mich aber nie, es meinem Vater zu sagen.
     
    Noch bevor sich meine Frau in mich verliebte, verliebte sie sich in dieses Haus. Eines Tages führte sie mich in den Klostergarten der Zionsschwestern. Wir tranken unter der Laube einen Tee, sie schlang sich ein rotes Tuch ums Haar, ihr Profil hob sich gegen die Zypressen aus uralten Zeiten ab. Von allen Frauen, die ich kannte, war sie die einzige, die nicht versuchte, die Toten
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