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Das große Haus (German Edition)

Das große Haus (German Edition)

Titel: Das große Haus (German Edition)
Autoren: Nicole Krauss
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ihr und nahm das halbe Zimmer ein. Er nickte, seine dunklen Augen waren glasig und leuchtend, als sähe auch er ihn vor sich. Langsam, wie mit einem schwarzen Stift und einfachen Linien, begann ich ihm ein Bild von dem Schreibtisch und dem Zimmer, das sein Herrschaftsbereich gewesen war, zu skizzieren. Während ich sprach, geschah etwas. Ich ahnte etwas an den fernen Grenzen meines Verständnisses, was mir durch Weisz’ Anwesenheit näher kam, etwas, was ich spüren, aber nicht fassen konnte. Ich hielt die Luft an, ich flüsterte, tastete nach einem Verständnis, das knapp außerhalb meiner Reichweite lag. Wir lebten in seinem Schatten. Als wäre sie mir aus seiner Dunkelheit heraus, der sie immer gehören würde, ausgeliehen worden, sagte ich. Als – und dann loderte etwas heiß in mir auf, und als es wieder schwarz wurde, spürte ich die plötzliche Kühle einer Klarheit. Als wohnte der Tod selbst mit uns in diesem kleinen Zimmer und drohte uns zu zermalmen, flüsterte ich. Der Tod, der in jede Ecke drang und so wenig Platz ließ.
    Es dauerte lange, bis ich ihm die ganze Geschichte erzählt hatte. Der lebendige, schmerzliche Ausdruck in seinen Augen und die Art, wie er zuhörte, als merke er sich jedes Wort, trieben mich voran, bis ich schließlich bei der Geschichte von Daniel Varsky war, der eines Abends an unserer Haustür klingelte, der meine Phantasie quälte und sich dann so schnell verzog, wie er gekommen war. Als ich zu Ende erzählt hatte, schwiegen wir. Dann fiel mir etwas ein. Eine Sekunde, sagte ich und ging ins andere Zimmer, wo ich die Schublade meines eigenen Schreibtischs öffnete und den kleinen schwarzen Taschenkalender herausnahm, das mit der winzigen Handschrift des jungen chilenischen Dichters gefüllte Büchlein, das ich fast dreißig Jahre lang aufgehoben hatte. Als ich wieder ins Wohnzimmer kam, starrte Weisz geistesabwesend auf das Fenster, das der Glaser ersetzt hatte. Nach einer Weile wandte er sich zu mir um. Mr.   Bender, kennen Sie Rabbi Jochanan ben Zakkai aus dem ersten Jahrhundert? Nur dem Namen nach, sagte ich. Warum? Mein Vater war Gelehrter der jüdischen Geschichte, sagte Weisz. Er schrieb viele Bücher, die ich Jahre später, nachdem er tot war, alle gelesen habe. Ich erkannte darin die Geschichten wieder, die er mir früher erzählt hatte. Eine seiner liebsten war die über ben Zakkai, der zu der Zeit, als die Römer Jerusalem belagerten, schon ein alter Mann war. Da er genug hatte von den sich untereinander bekriegenden Parteien in der Stadt, inszenierte er seinen eigenen Tod, sagte Weisz. Die Leichenträger trugen ihn ein letztes Mal durch die Stadttore hinaus und brachten ihn in das Zelt des römischen Generals. Zum Dank für seine Prophezeiung des römischen Sieges erhielt er die Erlaubnis, in Javne eine Schule zu gründen. Später erreichte ihn in dieser kleinen Stadt die Nachricht, dass Jerusalem niedergebrannt war. Der Tempel war zerstört. Die Überlebenden wurden ins Exil geschickt. In seiner Pein dachte er: Was ist ein Jude ohne Jerusalem? Wie kann man Jude sein ohne ein Land? Wie kann man Gott Opfer bringen, wenn man nicht weiß, wo man ihn finden soll? In den zerrissenen Kleidern des Trauernden kehrte ben Zakkai in seine Schule zurück. Er verkündete, der Gerichtshof, der in Jerusalem niedergebrannt war, werde dort, in dem verschlafenen Städtchen Javne, wieder errichtet werden. Statt Gott Opfer darzubringen, würden die Juden hinfort zu Ihm beten. Er wies seine Schüler an, mehr als tausend Jahre mündlicher Gesetzesüberlieferung zusammenzutragen.
    Tag und Nacht erörterten die Gelehrten die Gesetze, und aus ihren Erörterungen wurde der Talmud, fuhr Weisz fort. Sie waren so eifrig bei der Arbeit, dass sie manchmal vergaßen, welche Frage ihr Lehrer ihnen gestellt hatte: Was ist ein Jude ohne Jerusalem? Erst später, nachdem ben Zakkai gestorben war, offenbarte sich ganz langsam seine Antwort, auf ähnliche Weise, wie eine riesige Mauer erst erkennbar wird, wenn man sich rückwärts von ihr entfernt: Verwandle Jerusalem in eine Idee. Verwandle den Tempel in ein Buch, ein Buch, das so groß, so heilig und so komplex ist wie die Stadt selbst. Schare ein Volk um die Gestalt des Verlusts, den es erlitten hat, und lasse alles dessen abwesende Form spiegeln. Später wurde seine Schule als das «große Haus» bekannt, so genannt nach dem Buch der Könige: Und steckte das Haus des Herrn, den königlichen Palast und alle großen Häuser Jerusalems in Brand. Jedes
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