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Das große Haus (German Edition)

Das große Haus (German Edition)

Titel: Das große Haus (German Edition)
Autoren: Nicole Krauss
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Spur endete in einer Sackgasse. Oder es war nicht einmal ein Anfang da. Die Dinge halten nicht ewig. Das Bett, an das ein Mann sich als den Ort seiner seelischen Überwältigung erinnert, ist für einen anderen nur ein Bett. Und wenn es kaputtgeht, sein Stil aus der Mode kommt oder er es nicht mehr braucht, wirft er es weg. Aber der Mann, dessen Seele darin überwältigt wurde, hat das Bedürfnis, bevor er stirbt noch einmal in diesem Bett zu liegen. Er kommt zu mir. Ich sehe den Ausdruck in seinen Augen, und ich verstehe ihn. Also finde ich das Bett, auch wenn es nicht mehr existiert. Verstehen Sie, was ich sagen will? Ich schaffe es herbei. Aus der Luft, wenn es sein muss. Und wenn das Holz nicht genau so ist, wie er es erinnert, oder ihm die Füße zu dick oder zu dünn erscheinen, wird es ihm nur einen Augenblick lang auffallen, im ersten Schock und Zweifel, aber dann wird seine Erinnerung von der Realität des vor ihm stehenden Bettes überlagert. Weil er so dringend dieses Bett braucht, in dem sie einst mit ihm gelegen hat, braucht er die Wahrheit nicht zu wissen. Verstehen Sie? Und wenn Sie mich fragen, Mr.   Bender, ob ich mich schuldig fühle, ob ich das Gefühl habe, ihn zu betrügen, lautet meine Antwort nein. Denn in dem Moment, da dieser Mann seine Hand über den Rahmen gleiten lässt, gibt es für ihn kein anderes Bett mehr auf der Welt.
    Weisz langte sich an den Kopf, rieb sich die Stirn und knetete die Schläfe. Jetzt sah ich, wie müde er wirkte, trotz seiner wachen, scharfen Augen.
    Aber derjenige, der diesen Schreibtisch sucht, ist nicht wie die anderen, sagte er. Er ist nicht fähig, das Geringste zu vergessen. Seine Erinnerung lässt sich durch nichts überlagern. Je mehr Zeit vergeht, umso genauer wird sie. Er erkennt die Wollstränge eines Teppichs, auf dem er als Kind gesessen hat. Er kann die Schublade eines Tisches öffnen, den er seit 1944 nicht gesehen hat, und den Inhalt aufzählen, eine Kleinigkeit nach der anderen. Sein Gedächtnis ist für ihn realer, präziser als das Leben, das er lebt und das ihm immer verschwommener erscheint.
    Sie können sich nicht vorstellen, wie er mich verfolgt, Mr.   Bender. Wie er anruft und anruft. Wie er mich quält. Ich bin für ihn von Stadt zu Stadt gereist, habe Nachforschungen angestellt, Anrufe getätigt, an Türen geklopft, habe jede erdenkliche Quelle ausgekundschaftet. Aber es kam nichts dabei heraus. Der Schreibtisch – ein riesiges Ding, das nicht seinesgleichen hat – war einfach verschwunden, wie so vieles andere. Er wollte es nicht hören. Alle paar Monate rief er mich an. Dann einmal im Jahr, immer am selben Tag. Immer dieselbe Frage: Nu? Was Neues? Und immer musste ich ihm dieselbe Antwort geben: Nichts. Dann kam ein Jahr, in dem er nicht anrief. Ich dachte, nicht ohne Erleichterung, er sei vielleicht gestorben. Aber nein, mit der Post erhielt ich einen Brief von ihm, am selben Datum geschrieben. Eine Art Geburtstag. Und da verstand ich, dass er nicht sterben konnte, bis ich den Tisch gefunden hatte. Er wollte sterben, aber er konnte nicht. Ich bekam es mit der Angst. Ich wollte mit ihm fertig sein. Welches Recht hatte er, mir so etwas aufzubürden? Die Verantwortung für sein Leben, wenn ich den Tisch nicht fand, und für seinen Tod, wenn ich ihn finden sollte?
    Trotzdem konnte ich ihn nicht vergessen, sagte Weisz mit gesenkter Stimme. Ich begann wieder zu suchen. Und dann, eines Tages, vor nicht allzu langer Zeit, bekam ich einen Tipp. Als wäre aus den Tiefen, wo meilenweit unter dem Meer etwas atmet, eine kleine Luftblase aufgestiegen. Ich folgte ihr, und sie führte mich zu einer anderen. Und noch einer. Plötzlich war die Spur wieder lebendig. Monate bin ich ihr gefolgt. Und am Ende hat sie mich hierhergeführt, zu Ihnen.
    Weisz schaute mich an, er wartete. Ich sackte zusammen unter der Last der Neuigkeiten, die ich ihm mitteilen musste: dass der Tisch, der uns beide verfolgt hatte, schon lange nicht mehr da war. Mr.   Bender – hub er an. Er gehörte meiner Frau, sagte ich, nur dass meine Stimme als ein Flüstern herauskam. Aber er ist nicht mehr hier. Er ist seit achtundzwanzig Jahren nicht mehr hier.
    Sein Mund zuckte, und einen Moment lang schien ein Zittern sein Gesicht zu erfassen, aber es verschwand wieder und hinterließ einen schmerzlich leeren Ausdruck. Wir saßen schweigend da. In der Ferne läuteten die Kirchenglocken.
    Als ich sie kennenlernte, lebte sie allein, nur mit dem Tisch, sagte ich leise. Er dräute über
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